Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
20. Jahrhundert um einen DEUTSCHEN SONDERWEG . Gerade das, was sich in dieser Richtung aus dem Mittelmaß hervorwagte, wirkte nachträglich besonders deplaziert. Darüber sprach er mit dem Vater kein Wort.
Der Vater war längst wieder aktiv. Ihn schmerzte die Verachtung der Söhne. Sie reizte ihn zur GEISTIGEN TAT . Den Grund für den »deutschen Irrweg«, an dem er ja teilgenommen hatte, sah er, betrachtet aus dem Jahre 2011, in Umständen, die 487 Jahre zurücklagen. Deshalb widmete er dem Deutschen Bauernkrieg ein Werk, das bereits 3000 Seiten Manuskript und zwei Kisten voller Zettel und Notizen aufwies (geplant waren zwölf Bände, an denen er zwölf Jahre schreiben wollte, wenn Gott ihn ließe): Das war sein Thymos. 16 Seiten, die er ohne Anführungsstriche und Fußnoten aus Jules Michelets DIE HEXE übernommen hatte – der Einschub war als Montage gemeint, zog als Beispiel Frankreich heran, wo doch Deutschland gemeint war –, wäre der großen Arbeit beinahe zum Verhängnis geworden. Ein Plagiat-Vorwurf, von jüngeren Kollegen erhoben, hätte den kühnen Ansatz um Hartensteins Thesen vernichtet. Im Kern der Arbeit ging es um wenige, aber charakteristische Figurationen des Bauernkrieges: den Aufstand der Bauern selbst, deren Organisation in HAUFEN , die neue kollektive Formen darstellten und von Bauern, die als Söldner gedient hatten, eingeübt waren. Außerdem: die Tricks bei Niederschlagung der Revolte und die Raffinesse der anschließenden Strafen. Zweitens ging es um die Versuche von Bauern, mit Städtern und Persönlichkeiten des Schwertadels zu Bündnissen zu gelangen. So hätten spezielles Wissen und die Potenz der Bauern in eine Verbindung miteinander geraten können. Beinahe! An einzelnen Orten! Ein Sonderfall, so Hartensteins Forschung und Darstellung, sei das Bündnis zwischen Bergknappen, Gelehrten, Schmieden und Bauern im Salzburger Land gewesen. Ein Verhängnis, schrieb Hartenstein, daß dieser Entwurf eines Gemeinwesens sich nicht verbreitet hatte. Hier an der Durchzugsstraße von Italien nach Holland, quasi einer frühkapitalistischen Schneise durch das Gebiet, in dem Bodenbearbeitung stattfand, entfachte sich ein besonderer Zorn und Trotz gegen die Unwissenheit und Willkür des Bischofs und seiner Camarilla. Der Aufstand, so Hartenstein, besaß eine protestantische Note. Und er verfügte über eine dem Gartenbau ähnliche politische Kultur. Es entstand die kommunale, quasi »eidgenössische« Struktur eines Gemeinwesens. Der mit Söldnern anrückende Bischof vermochte lange Jahre nichts auszurichten gegen diese SICH SELBST ORGANISIERENDE GEMEINDE .
In farbigen Karten (die Zutaten dafür kaufte er in der Unterstadt ein) zeichnete Hartenstein ein »Neues Deutschland«, in dem sich von Landschaft zu Landschaft dieses »Salzburger Modell« hätte ausbreiten können. Dazu gehörte das Gebiet des SEEHAUFENS am Bodensee. Ohne Not war dieses mächtige Kontingent aus erfahrenen bäuerlichen Kriegsknechten und waffenkundigen Bodenbearbeitern auseinandergelaufen, nachdem es sich mit dem »betrügerischen Grafen von Waldburg-Zeil« auf einen Vertrag geeinigt hatte (eilig, um noch rechtzeitig zur Ernteeinbringung zu kommen). Warum vermag ein armseliges Rittergehirn die Intelligenz einer versammelten Landgemeinde zu besiegen? Der deutsche Sonderweg, schrieb Hartenstein, folgt aus dieser Monstrosität. Das Salzburger Modell hätte, gestützt auf den intakten SEEHAUFEN , die Verbindung ins Elsaß geschlagen, Straßburg gewonnen und wäre den Haufen in Thüringen und Nordhessen zu Hilfe gekommen. Eine solche Chance wirkt als Unterstrom der Geschichte, so Hartenstein, in der gesamten Folgezeit einer Bevölkerung nach, gleich ob sie eine Nation bildet, eine Einbildung darstellt, sich als Reich konstituiert oder welchen Irrtümern auch immer sie folgen mag.
In einem solchen ZUSAMMENHANG hätten der Süden und der Westen des Reiches, dessen Städte die Sklaverei aufhoben, eine EIDGENOSSENSCHAFT entwickeln können, ähnlich jener, die heute die Schweiz ausmacht. Einen Rohentwurf seiner Arbeit hatte Vater Hartenstein vor seinem plötzlichen Tod im Januar den Söhnen vorgelegt, zu Weihnachten 2010. Sein erster und sein zweiter Sohn, der die Parteizugehörigkeit des Vaters zur NSDAP am schärfsten mißbilligt hatte, waren erschüttert, als sie in den Manuskripten lasen und bei einem kurzen Gang ins Nachbarzimmer den Vater dort weinen sahen. Der Studienrat hatte sonst nie geweint. Die Söhne erzählten, er habe
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