Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
»bitterlich geweint«. Das war der Augenblick, in dem die Söhne, auch derjenige, der als streng galt, dem Vater die verheimlichte Mitgliedschaft in der NSDAP verziehen.
»Anpassung und Widerstand«. Formulierung eines Textes aus dem Geiste der Entspannung
Wenn der Abend einfiel und die Telefonate des Tages versickerten, wurde mein Chef Hellmut Becker gutgelaunt, schläfrig und in seinen Gedankengängen allgemein. Begierig saß das hagere Fräulein Bühler, ihren Stenoblock und sieben Stifte vor sich, neben ihrem Beistelltischchen; ihr gegenüber der auf dem Sofa gelagerte Becker. Fräulein Bühler war aufnahmewillig. Es war ihr eine Gewohnheit, Aufsätze, die an solchen Abenden zustande kamen, auf ihren Blöcken zu sichern.
In dieser Konstellation entstand die Formel ANPASSUNG UND WIDERSTAND , um die sich längere Zeit Beckers öffentliche Äußerungen zentrierten. Diese Worte paßten auf eine Verhaltenstypik im Dritten Reich ebenso wie auf den Bildungsalltag in den Schulen (den Auftritt selbstbewußter Schüler gegenüber einem identitätsgewissen Lehrpersonal) und blieben grundlegend für die notwendigen Eigenschaften des mündigen Bürgers in der Endphase des Wirtschaftswunders, in welcher schon Umstände zu ahnen waren, die eine einfache Polarisierung nach »Anpassung« und »Widerstand« als Slogan, wie ihn auch die Zeit aufgriff, überholten. Meine Aufgabe war es, mit knappen Einwürfen die langsam aufkommende, aus der Abendstimmung entwickelte Gedankenbewegung des Chefs (die erregten Konversationen und Streitigkeiten am Tagestelefon als Echo stets noch präsent) anzuheizen, nicht aber sie zu stören.
Man muß, sagte ich, das Wort Anpassung von dem Verdacht befreien, es gehe um Passivität, Gleichgültigkeit, Mitmachen wie im Dritten Reich und in der Zeit danach. Vielmehr bedeutet Anpassung »kommunikative Kompetenz«, eine Tugend, die aus einem Kind, das nur spielen will, ein soziales Wesen macht, das auf Herausforderungen antwortet. Daher Anpassung in der Grundschule und auf den späteren Stufen der Bildung. Anpassung und Bildung sind das gleiche.
Abb.: Hellmut Becker.
Damals hatte ich noch eine vor Eifer schmalverzerrte Mundpartie. Die Ruhelage des abendlichen Becker führte bei mir zu unnötig angespannter Rede. Nie hätte Fräulein Bühler auf der linken Seite ihres Blocks, wo Platz war, Stichworte meiner Einwürfe mitstenographiert, obwohl weder sie noch Becker, noch ich die Formulierungen, in denen wertvolle Bausteine zu finden waren, im Kopf behielten. Meine Einwürfe dienten nur dazu, daß die träge Argumentation des Chefs sich etwas beschleunigte und er in großer Unabhängigkeit von dem, was ich sagte, sich neue Sätze entwand, die Fräulein Bühler gewissenhaft und quasi »schnappend« festhielt.
Würde Habermas das so sagen? fragte Becker zurück. Vor einem neuen Abschnitt des Diktats debattierte er gern. Ich konnte nicht beantworten, wie Habermas den Begriff Anpassung deuten würde. Ich nahm nicht an, daß er das Wort überhaupt verwendete. Im Institut für Sozialforschung in Frankfurt hätte der Ausdruck einen pejorativen Sinn gehabt. Ich werde morgen nachsehen, ob sich der Begriff Anpassung bei Habermas findet, antwortete ich. In jedem Fall aber enthält das Wort Anpassung im Gegensatz zu Widerstand eine andere Konnotation, als wenn man das Wort allein verwendet. Widerstand assoziiert eine Linie von Hitlergegnern, Protestanten seit dem 16. Jahrhundert, eine Skala von unbeugsamen Geistern bis hin zu Querulanten. Der Aufsatz war für eine Zielgruppe von Lesern in der Monatszeitschrift Merkur bestimmt. Blieb Widerstand ein unscharfer Begriff, weil man sich darunter szenisch vielerlei vorstellen konnte, so mußte Anpassung (in Piagets Sinne) scharf und positiv umrissen sein. Kein Leser würde überrascht sein, wenn wir Widerstand zur Tugend und Anpassung zur Untugend machten.
In seiner aufgeräumten Stimmung griff Becker den Einwurf auf. Er entwickelte (und mich überraschte diese »weiterführende Wendung«), daß Widerstand einen Gegenstand braucht, an dem er sich abarbeitet. Erst so wird aus einem diffusen Dagegen eine Haltung. Glücklicherweise haben wir in unserer Zeit kein Gewaltregime wie vor 1945, das sich seinen Widerstand selbst produziert. Insofern benötigt ein junger Mensch ein Quantum anfänglicher Festigkeit, also Anpassung, Prägung, so daß WIDERSTAND eine Art zweite Muttersprache bildet, sozusagen in Rede und Antwort auf ANPASSUNG , die man »erfährt« (man erbt sie,
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