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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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nicht näher begründen. Die Dauer der »Erlebnisse« war siebenmal länger als die Dauer der Reizung.
    Was Jaynes vorherzuwissen glaubte: Aus der Zeit unserer Vorfahren vor 3000 Jahren tragen alle rechtshändigen Menschen parallel zu den drei Sprachzentren in der linken Hemisphäre ihrer Gehirne ein zu gleichen Leistungen befähigtes Zentrum in der rechten Hirnhälfte mit sich, das Sprachen versteht, aber selbst stumm ist. Es ist HEUTE stumm, fügt Jaynes hinzu, gehörte aber für die frühen Menschen, auch noch für die Griechen, welche die Lineatur B entwickelten und um Troja kämpften, zu einem halluzinatorischen Bereich, der Stimmen zur linken Hirnhälfte aussandte: Das ist das DOPPELHIRN , auf dessen Tätigkeit alle menschliche Wahrnehmung geeicht war, ehe (ohne Veränderung der organischen Grundlage) das moderne Bewußtsein entstand. Seither ist diese rechte Hälfte der Intelligenz verstummt, es ist der Sitz der GÖTTER IM MENSCHEN , so Jaynes. Die Chirurgen, die er ein halbes Jahr lang begleitete, reizten die commissura anterior rostri cerebri . Der Strang von kaum mehr als drei Millimetern Durchmesser überquert in einem kleinen Bogen Hypothalamus und Mandelkern und öffnet sich trichterförmig zum linken Schläfenlappen. Der schmale Steg, jubelte Jaynes, ist die Brücke, über die aus der rechten Hemisphäre die Direktiven der Kultur und die Weltreligionen zum Sprechen kommen.

    Abb.: Mensch, der die Stimme der Götter nicht hört.
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    Abb.: Adlerkopf.
Die kurze Ära des Bewußtseins
    E. A. Speiser, der In Search of Nimrod schrieb, bestätigt die Hinweise von Jaynes. Die Menschen der frühen Zivilisation operierten zweigeteilt, sagt er. Sie bestanden aus dem ihnen innewohnenden Lenker namens Gott und dessen Gefolgsmann namens Mensch. Sie waren doppelköpfig, besaßen zwei Seelen, so wie es zwei Hände gibt und noch heute zwei Hemisphären des Gehirns. Das WERNICKE-ZENTRUM im Großhirn vermochte zu rufen, und das HALLUZINATIONSZENTRUM in der Gegenhemisphäre wußte zu antworten. So kämpften Doppeladler vor der rossebändigenden Stadt Troja. Die Gesänge zwischen den beiden Köpfen waren ansteckend. Die Stimmung des Heeres schwankte zwischen Angriff und Flucht, je nachdem, was die Götter schrien (die doch nur die andere Seite des künftigen Selbst waren). So gelangten die Kämpfer entweder über die Mauern hinweg, oder sie trieben zurück zu den Schiffen. Sie diskutierten das mit sich selbst, ohne zu wissen, daß es so geschah.
    Das diesen ursprünglichen Gebrauch des Gehirns überwölbende BEWUSSTSEIN gibt es erst seit einigen tausend Jahren. Es ist dies kein Zeitraum, in dem sich eine Eigenschaft vollständig durchsetzen oder auch nur bewähren kann. Der Zeitraum entspricht gerade einmal drei Schlägen an der Erdbebenkruste bei Japan, zwei Schwüngen der Menschheitsgeschichte oder der Achsenzeiten. Die Phase der BEWUSSTSEINSPHILOSOPHIE umfaßt davon nur 25 Jahre, nämlich die Zeit zwischen Immanuel Kants drei Hauptwerken und dem Abschluß der Philosophie durch Hegels Phänomenologie des Geistes .
Die assyrische Springflut
    Assur im Reich von Ur war lange Zeit eine friedliche Stadt, bestehend aus Menschen mit bikameraler Hirnpraxis. Assyrische Kaufleute, die sich im Tauschhandel weit von den Stimmen des Stadtgottes entfernten und mit anderen Völkern und deren Götterstimmen in Berührung kamen, gaben im Tausch zuviel von sich an diese Ferne weiter. Bei ihnen lockerten sich die Fesseln zwischen Göttern und Menschen, wie sie im Kopf durch die mentale Interaktion befestigt waren. Danach gab es ein rätselhaftes Zeitalter der Anarchie. Für mehrere hundert Jahre existieren keine Inschriften oder Zeugnisse von dieser dunklen Zeit Assyriens. Am Ende dieser Periode sieht man ein neues assyrisches Reich. »Und was für ein Reich dies war! Nie zuvor hatte die Welt eine so militaristische Nation gesehen.« Noch in dem Gedicht »Der Wind hat uns Trost gebracht« von 1922 heißt es bei Ossip Mandelstam: »In der Bläue spürten wir assyrische Libellenflügel / als Vorahnung verdichteter Nacht / flimmert ein unheildrohender Stern.«
    Karl Heinz Bohrer kommentiert: Die rechte Hirnhälfte war Sitz der Götter, jetzt ist sie feindbesetzt. Handel und Tausch (und Tausch ist anfangs immer gewaltsam) schwächen diesen Mentalgebrauch. Eroberer setzen ihm ein Ende. Die Krise ist radikal wie Medeas Taten. Daraufhin entsteht »Bewußtsein« (zusammengesetzt aus Anarchie und Revolution). Die wie eine Gegennatur geborene

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