Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
unterschiedliche Dinge im Chor zu denken, also gleichzeitig.
Allmähliche Beladung des Hirns durch Schrift
Sie aß kaum etwas und war doch äußerst korpulent. Sie hielt – wie andere Wirtinnen eine Mittagstafel halten – einen Nachhilfestundentisch zur Rettung von Kindern aus reichen Häusern, die bis dahin lernunwillig waren und deren Versetzung in den Gymnasien der Stadt bedroht schien. Früher einmal hatte sie als Oberstudiendirektorin eine Lehranstalt geleitet. Aus Gründen, über die nichts bekannt war, wurde sie aus dem Schuldienst entlassen. Zwölf Schüler paßten an den großen Eichentisch, dem sie vorsaß. Fortlaufend korrigierte sie die Arbeiten, die ihr zugereicht wurden. Hatten die Nachhilfeschüler das verordnete Material geliefert und hatte das Überreichte Bestand vor ihren Augen, konnten die Schüler nach Hause gehen, spielen. In einem Schrank verwahrte Frau Knorre große Rollen von braunem, pergamentähnlichem Papier. Davon schnitt sie Portionen ab, die zu Heften gefaltet wurden, mit Stecknadeln am Rücken dieser »Hefte« festgemacht. Auf diesem Meer unbeschriebenen, festen Papiers sollten wir, ohne viel zu denken, aus deutsch-lateinischer Wortkunde und aus den Grammatiken abschreiben. Durch das Schreiben selbst, von der Hand also zum Kopf hin, »lernten« wir, unabhängig von den Vorgängen in der Schule, die antike Sprache, die von der Halberstädter Umgangssprache so fern war wie der Mond. Wir konnten sowohl die Wortfolge, die Stellung der Wörter auf den Seiten memorieren als auch die Grammatik in einer Art Schriftbild in unserem Innern aufnehmen. Unsere Lehrmeisterin benutzte statt des dünnen Ludus Latinus , den die Schule vorschrieb, das umfangreiche Lehrbuch Vita Romana von Kaegi aus der Schweiz. Wir waren beauftragt, die Vokabeln in ausufernder Handschrift zu schreiben, sozusagen viel Papier zu verbrauchen, Raum auf dem Papier und im Geist zu gewinnen und einen Erfolg zu erleben, wenn das Heft voll war und aus den Rollen im Schrank ein neues verfertigt werden mußte. Verbrauch war Wissen. Fehler kreuzte Frau Knorre nicht an. Sie sollten sich nicht einprägen. Ihr genügte ein kurzer Hinweis. Etwas, das siebenmal richtig geschrieben wurde, glich jeden Fehler aus, der nur einmal geschrieben wird. Die Fehler wurden nicht subtrahiert, sondern überlagert. Später erfuhr ich, daß die Methode dieser ehemaligen Oberstudiendirektorin aus mittelalterlichen Klöstern stammte. Die Geburt des Lernens aus großzügiger Bepflasterung von Papier mit Worten. Die finden dann schon ihren Weg durch in den Kopf.
Kurz vor der Kapitulation 1945 verschwand Frau Knorre nach Braunlage. Dort lebte sie einige Zeit mit ihrer Freundin, derentwegen sie aus dem Schuldienst entlassen worden war. Das erfuhr ich später, als ich nach ihr suchte. Sie war aber dort nicht mehr zu finden, wo sie 1945 verschwunden war. Sie war die erste und einzige, die mit mir fertig wurde nach 17 Versuchen mit Nachhilfeunterricht.
»Die Lebensbahn des Zwerchfells«
Wer den Galeriewald an einem Flußufer in Afrika sieht, schrieb Arno Schmidt, der nie dort war, blickt auf das Gelände, in dem unsere Urahnen ihre ersten glücklichen Tage verlebten. Dort, zwischen Savanne und Flußufer, unter Bäumen, erlebten sie erstaunt, auf zwei unsicheren Staken oft bis zur Brust im Wasser watend, wo man die Fische und Krebse nur greifen muß, das HOCHGEFÜHL DES AUFRECHTEN GANGES . Das Eiweiß war hochkonzentriert und angenehmer zu schlucken als das zähe Muskelfleisch rennender Tiere (die man auch nicht gleich zur Hand hat, wenn es einem nach ihnen verlangt).
Körperliches Zeichen dieser Wende zur Aufrichtung des Körpers ist das Zwerchfell, das den nunmehr nicht mehr vierbeinig hingegossenen, sondern nach oben gestapelten Körper in zwei Sphären teilt. Das OBEN mit dem Atem, dem Herzen, dem Gehirn (der Seele der späteren Pythagoreer), das UNTEN : der Magen, die Geschlechtswerkzeuge, die Därme, die Beine (die Arbeiter, die Sklaven). Dazwischen, weder auf die Kommandos von oben noch auf die von unten wirklich hörend, ein starker Muskel: das Zwerchfell, das Kind des aufrechten Ganges.
Es handelt sich um eine »Muskel-Sehnen-Platte, die den Bauchraum und die Brusthöhle voneinander trennt. Im antiken Griechenland hielt man das Zwerchfell für den Sitz der Seele«. Verblüffend ist aber nicht bloß die Wirkung dieser Sehnen- und Muskelfläche als Trenner, sondern ihre Unbeherrschbarkeit: wenn etwas zum Lachen reizt. Nach Auffassung des Katalanen
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