Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
handelte
In der Nacht Alptraum. Ich hatte den Eindruck, auf dem Kopf zu stehen, mit dem Kopf in eine enge Höhle eingepreßt zu sein. Beim Aufwachen Luftalarm. Erregte Räumung der Stockwerke des Hauses in Richtung Keller. Ich werde angekleidet. Hinuntergeschafft.
Ich übernachtete in jener Samstagnacht in der Ratsapotheke am Holzmarkt bei meinem Freund Peickert. Am späten Nachmittag hatten wir in einem der Vorratshäuser der Apotheke, die an den Hinterhof anschlossen, Eierlikör entdeckt. Spätabends Anruf der Wirtschafterin, ich solle sofort nach Hause kommen. Ich werde zum Telefon gerufen. Ich komme überhaupt nicht mehr nach Hause, antwortete ich. Ich war aufgeregt, betrunken. Mir war hundeelend. Für Stunden auf fremdem Klo. Aller Mageninhalt voll ausgekehrt.
Der folgende Tag war offenbar ein Sonntag. Ich irre im Lindenweg auf und ab. Ich kann mich nicht entschließen, zur Ratsapotheke zurückzukehren, wage aber auch nicht, zur Hauptmann-Loeper-Straße nach Hause zu gehen. Auf halbem Wege dieser entgegengesetzten Ziele halte ich mich unter Bäumen auf. Überrascht sehe ich meine Mutter aus dem Domclub kommen. Sie scheint eilig. Sie hört meinen Bericht. Sie eilt in den Domclub zurück, zum Telefon. Auch als geschiedene Ehefrau ist sie für das Personal unseres Hauses noch Chefin: sofern mein Vater noch schläft und ihre Enthronung nicht mitgeteilt hat. Seit der Scheidung gilt sie als Verräterin. Später verstand ich die Situation des Samstags, den ich bei Peickerts verbrachte, und die des Sonntag morgens. Es handelte sich um den Tag, an dem meine Mutter im Dom einen anderen Mann heiratete. Mußte das in derselben Stadt sein, in der sie zwölf Jahre lang ihre Ehe geführt hatte? fragte Hilda Liesenberg.
Alles von mir nur halb verstanden. Ich glaubte aber, Gründe zu haben, meine »Heimkehr« nach Hause zu fürchten. Das erregte Telefonat meiner Mutter hatte die Krise verschärft. Sie hatte das Personal angewiesen, mich in der Hauptmann-Loeper-Straße ohne Strafe aufzunehmen. Die Wirtschafterin meldete es wörtlich an meinen Vater, petzte. Der sandte Leute aus, mich in der Stadt zu suchen und sofort vor ihn zu bringen. Nun gehörte auch ich zu den Verrätern, welche die Familie mit öffentlicher Schande bedeckt hatten. Wieso mußte ich im Vaterhaus ungerechte Strafe fürchten? Mit meiner Verteidigungsrede kam ich nicht zu Wort. Warum sollte ich nicht Partei meiner Mutter sein, wenn ich doch ihr gehörte? Das aber war nicht Verhandlungsgegenstand. Vorwurf war BETRUNKENHEIT AM VORABEND IM FREMDEN HAUSHALT . Rüde Rede gegenüber dem Personal und der Weisung des eigenen Vaters. Konspiration. Meine Angst, nach Hause zu kommen, mußte in der Stadt den Eindruck erwecken, ich würde dort mißhandelt. Stadtklatsch gab es schon genug. Zimmerarrest ohne Essen. Ohnehin hätte ich nichts im Magen behalten. Im Gefängnis meines Zimmers endlich Pause (kein Frieden).
Entschluß eines aufgeregten Julitages
Ich ließ mir als Gerichtsreferendar an jedem Tag, an dem die Große Strafkammer nicht tagte (und sie tagte nur einmal in der Woche), den Schwurgerichtssaal aufschließen und schrieb an meinen »Heften«. Der ruhige, dunkle Raum spiegelt jede Konzentration zurück. Man sieht nichts als dunkelbraune Täfelung, Lampen, die nicht angeschaltet wurden, ein schütteres Licht, das die späte Stunde durch die hohen Fenster hereinschickt. Hier schrieb ich die Skizzen für den Lebenslauf des Richters KORTI .
Ich wohnte auf der Höhe der Biebricher Allee in der Wohnung einer Cousine meiner Mutter, die sich Tante Dorle nannte. Man fährt mit dem Fahrrad vom Gerichtsgebäude die Biebricher Allee hinauf bis auf die Höhe, von der es nach Biebrich und Mainz hinabgeht. Ein Turm an Vorstellungsvermögen, wenn man so auf dem Gipfel wohnt. Abends im dritten Rang der Staatsoper Wiesbaden oder im Parkett der Mainzer Oper.
Für den Herbst war die Verwaltungsstation vorgesehen im Landratsamt Rüdesheim. Das Referendariat besteht aus drei Monaten Tätigkeit am KLEINEN AMTSGERICHT , fünf Monaten am LANDGERICHT HANDELSKAMMER , drei Monaten STAATSANWALTSCHAFT , drei Monaten VORMUNDSCHAFTSGERICHT , fünf Monaten GROSSE STRAFKAMMER , fünf Monaten LANDGERICHT ZIVILKAMMER . Ich wäre mit der Energie meiner Schreiblust auf der bevorstehenden Verwaltungsstation in Rüdesheim in eine ruhige, extensive Sphäre gelangt. Dies war eine konservative Umgebung. Ich wäre hineingewachsen. Frankfurts Kritische Theorie hätte ich nie kennengelernt.
Ein
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