Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
nur.«
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[Heidegger und seine Kameraden] Man muß sich die Reise nach Griechenland nicht monologisch vorstellen. Reichlich wurde unter den Gefährten erörtert, was man sah. Vor allem das, was nirgends zu sehen war, aber die Gemüter beseligte. Hier kamen Konzentrate an Vorstellung in ein dekonzentriertes See- und Landgebiet, das seit mehr als tausend Jahren geistig entvölkert war.
Nach dem hitze- und staubbelasteten Kurzaufenthalt in Athen fuhren die Freunde nach Kap Sunion. Die Gemäuer des Tempels in ihrem harten Weiß echoten die Sonne in aggressiver Weise. Hier waren schon Funkkommandos der deutschen Truppe in Griechenland gewesen, die in ihrer Funkstelle mit Mesopotamien und den dort aufständischen Offizieren des Irak Kontakt gehalten hatten (auf drei Wochen). Auch sie mochten ein Bad genommen haben in den Pausen des erregten, durch Pannen unterbrochenen Funkverkehrs. So nahmen Heideggers Gefährten mit ihm im kristallklaren Wasser ein Bad; die Empfindung auf der Haut eines Menschen im 20. Jahrhundert und die auf der eines Heroen aus der Antike unterscheiden sich kaum. Das mochte man mit der Logik hinreichender Wahrscheinlichkeit unter Vergleichung aller Differenz der Zeit so behaupten. Die Freunde trockneten sich in der Sonne, die über griechischem Boden steil erscheint.
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[Tatsächlich ist Griechenland ein bemerkenswert landloser, gleichsam ›leerer‹ Raum, den die verstreuten Inseln buchstäblich nur ›sporadisch‹ ausfüllen] Der Austausch an Menschen und Gütern, also etwas momentan nicht Sichtbares, ist wie ein Himmelszelt zwischen dem kleinasiatischen Smyrna und den Tälern der Peloponnes aufgespannt. Alles dies war für den Philosophen nichts Sichtbares oder Anfaßbares, während er es als Gleichnis sah und auf die Abfertigung des Schiffs wartete, das die Anlandung ermöglichen sollte. Athen war nicht des Philosophen Ziel. Seine Vorstellung von Enttäuschung war längst vorbereitet, unwiderleglich, weil Athen schon damals nichts von Heraklit in sich aufgenommen hatte. Das Athen des 5. Jahrhunderts war bereits Schein. Was sollte inzwischen in der Millionenstadt anderes hinzugetreten sein als die Unordnung von Museen: Unwirklichkeit überhaupt? So hoffte Heidegger, noch durch eine Reise nach Delphi etwas zu retten. Obwohl er die Annahme, er müsse etwas »retten«, als ungerecht empfand, denn er hatte außerhalb des Realen, des »besichtigten Griechenland«, durchaus Impulse empfangen. Auf dem Weg zur Orakelstätte, die als Museum gestaltet war, ließ ihn eine Kette von Hotels, in US -Bauweise errichtet, scheuen. Rasch fuhr er weiter und erreichte mit Bahn und Schiff Venedig, das er vom gleichen Techno-Gott der Moderne okkupiert fand, dessen Gevatter der Touristik-Geist ist. Glücklich zu Hause.
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»Was ist es, das /
An die alten seligen Küsten /
Mich fesselt, daß ich mehr noch /
Sie liebe /
als mein Vaterland«
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Die unsichtbare Schrift
Wartezeit
Er hat versucht, seinen Sohn anzurufen. Niemand hört. Dann die Tochter, danach die Frau. Sie sind über ihre Handys nicht zu erreichen. Pause im Leben. Er hat niemanden, mit dem er sich austauschen kann in der Eile, die er noch aufgrund der Geschäfte des Tages in seinem Körper fühlt.
Das Fenster zeigt eine dunkelgrüne, abendliche Baumgruppe. Noch Licht in den Wipfeln, Abschied des Tages. Auf einem Teewagen (zwei Generationen älter als der Beobachter) sind auf einem Halter aus Glas vier Kerzen befestigt, deren Farbe, je nach Licht, das vom Fenster kommt, zwischen Blau und Hellviolett changiert. Wenn der Wartende bald stirbt, wird das immer noch eine Weile so dastehen, weil es nie einen Grund gab, es so vor dem Fenster aufzustellen, also es kaum einen Grund gibt, es von dieser Position zu entfernen. Es sind zählbare Abende, die ich erleben werde. Die meisten davon ohne solche Aufmerksamkeit auf das allmähliche Schwinden des Lichts, weil ich nicht warten muß, in Gesellschaft bin, mich beschäftigt weiß und die Menschen erreiche, mit denen ich lebe. So ist diese Minutenfolge vielleicht ein Unikat vor den Reden, die am Ende gesprochen werden.
Die Farbe des Lebens draußen vor dem Fenster hat sich inzwischen verändert. Kein Licht mehr seitlich auf den Rändern der Bäume. Das Blauviolett der unnützen Kerzen hat sich entfärbt. Ganz vorn eine Gruppe von Bleistiften und zwei Anspitzer vor einer Lampe, die bald angezündet sein wird. Es gibt viel zu tun. Jetzt muß ich essen gehen.
Erst später verstand ich, worum es sich
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