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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Mitreferendar, abenteuerlicher Geist, verfänglich, weil er Kontakte zu Mädchen vermittelte, gab die Losung aus: Wir stellen die Verwaltungsstation zurück, wir beantragen Versetzung nach Frankfurt am Main, zwei Stellen für Referendare im Arbeitgeberverband sind offen, direkt am Hauptbahnhof. Das wird ein »Abstecher«.
    In diesem Winter bezog ich Quartier in der Jugendherberge Frankfurt-Süd. Tagsüber, in dunklem Anzug, mit Hemd und Krawatte, Dienst als Referendar, abends und nachts primitive Überbrückung in Sachsenhausen, wie ein jugendlicher Wanderer, eine Art Hochstaplerleben. Als die Wintertage zugriffen, fing ich mir eine Kopfgrippe ein. Ich flüchtete zurück in die Wohnung der Tante, zweifelte, ob ich mich in der Metropole Frankfurt je würde halten können; jedenfalls war die Jugendherberge kein Brückenkopf. Mein Zahnfleisch entzündete sich. In der Zahnpoliklinik der Universität behandelte man das eiternde Gelände, zog einen Zahn, implantierte Gold. Nichts als Homer in Reclamausgabe als Trost im Wartezimmer.
    Als der Frühling kam, wachte ich auf wie aus einem Alptraum. Der Entschluß, die Verwaltungsstation im geordneten Rüdesheim auszuschlagen und die »Wirklichkeit« in der Gestalt der Metropole zu suchen, erwies sich als gewagt. Werner Sörgel, Leiter des Studentenheims der Universität, nahm mich, noch immer krank, gab mir ein Zimmer unter Vorbehalt. Bei dem nachträglichen Auslesetermin für Bewerber entschied der Universitätskurator Frieder Rau zugunsten meines Verbleibs unter Nichtachtung der Richtlinien, die bei Zweitstudium (ich hatte ja mein erstes Staatsexamen und studierte jetzt aus Luxus Geschichte) keine Unterbringung im Studentenhaus zuließen. Vier Wochen später war ich Referendar im Kuratorium, Teil der Verwaltungsstation. Die weiteren Schritte haben mein Leben bestimmt. Ich nehme an, daß die Meinungen in meinem Kopf sich anders sortiert hätten, wäre ich diesem Impuls, statt nach Rüdesheim nach Frankfurt zu gehen, nicht gefolgt. Jener Julinachmittag, die Stunden zwischen 14 Uhr (dem Zeitpunkt, zu dem mich der Mitreferendar, in dessen Lebensführung ich vernarrt war, mit dem Vorschlag konfrontierte, nach Frankfurt auszubrechen) und dem Büroschluß im Vorzimmer des Landgerichtspräsidenten, der aus Gründen der Frist nur an diesem Tage über unsere Versetzung entscheiden konnte, also ein heißer, aufgeregter Julitag, entschied (durch Zufall nicht besser als bei Würfelspiel), auch infolge Mangels an Zeit darüber, daß ich künftig auf der Linken firmierte, im Vortrott der Protestbewegung
Nebeneinanderschaltung
    »Die Verzwicktheit des Universums treibt, scheint’s, einem neuen Maximum entgegen.«
    So besteht der Poet aus einer Fülle sensibler Haare (wie jenen in der Mähne der Medusa), oder er besitzt Tentakel, sein Gehirn lateralisiert also und kann mit seinem tatenlustigen Ohr das Gute und das Böse vor sich sehen und etwas beschreiben, das nirgends in der Welt existiert. Dieses VIELFALTWESEN hat einen evolutionären Vorteil gegenüber jeder Einfachheit.
    Am Schluß einer gewissen Periode seines Schaffens folgte Arno Schmidt einem Stundenplan, in dem er sich und sein Selbst, das schreibmächtige, jeweils in die Rolle eines früheren Schreibers einfügte. Eine Stunde lang bewegte er sich in der Uniform eines Christoph Martin Wieland, dann wieder, eine Kinderlaune, veränderte er sich auf eineinhalb Stunden in den besten Freund des bereits vom Wahnsinn geschlagenen Nietzsche, den Theologen Franz Overbeck. Wie mußte der kämpfen gegen die Fälschungen von Nietzsches Schwester! Zuletzt verwandelte sich Arno Schmidt (einschließlich seiner Träume, in denen er die Rolleneinteilung nicht vollständig beherrschte) in einem Wochenlauf in 168 unterschiedliche Personen, von denen jeweils diejenige auf Kosten der anderen etwas länger überlebte, in der sich aufzuhalten ihm Lust bereitete.
    Eine solche NEBENEINANDERSCHALTUNG entspricht unserem zweigeteilten Gehirn (die beiden Hälften durch tausend Trampelpfade, Schmugglerfährten und Geheimgänge verknüpft), dessen Eigentätigkeit niemand schubsen muß oder kann und das als ÜBERLEBSEL die extrem lange Evolution zwischen der Eiszeit vor 500 Millionen Jahren und dem Dorf Bargfeld überbrückt (oder tunnelt). Wir wären ohne dieses »Hirschgeweih aus Phantasie« nicht überlebensfähig. Und wir könnten keinem Teenager imponieren, den wir in der Kreisstadt treffen, so Schmidt, wenn nicht der Kopf in der Lage wäre, mehr als 180

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