Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Calixto Bieito stecken im Zwerchfell die »Partisanen des Charakters«. Das Zwerchfell stirbt sowenig beim Tode eines Menschen, wie die Gegenwehr und Verzerrungslust, die im Witz steckt, früher stirbt als die ganze Menschheit. 4
Lebensläufe der Libido
Liegt der Körper auf Holzplanken in der Sonne, oder erwacht er aus dem Schlaf, oder kuscheln sich die Knochen müde in die Decken, oder tritt eine attraktive Person überraschend zur Tür herein – immer sind sie da, die Besatzer im Leib der schönen Freddi. Sie wandeln ihre Gestalt, je nachdem, welchen Teilen des Leibes oder der Seele sie sich gerade anschließen. Sie tun das im Gegensatz zu Anlegern auf dem Börsenmarkt, die ihr Geld in Aktien investieren und sich doch an nichts, was den Gegenwert dieser Wertanlage entspricht, in ihrer Gestalt anpassen.
Diese Geister oder auch: diese zweite Natur und Innenhaut in allen Menschen nennt sich die WELT DER LIBIDO . Die junge Freddi verfügte über eine spezielle Sorte der Libido (oder war geprägt durch sie), die sich in dunklen Tagen verkroch in dumpfen Trübsinn, um dann regelmäßig wieder zu erwachen, in ihr zu schwärmen, so daß sich alle Leute, die mit ihr zu tun hatten, mit ergriffen fühlten. Stimmung kam auf.
Hätte ein Anatom nach den LIBIDINÖSEN KRÄFTEN gesucht, er hätte diese Elementarwesen nicht gefunden. Der Forscher, der sie entdeckte und ihnen den Namen gab, behauptet von ihnen, daß sie kein Interesse für die Außenwelt, für Überblick oder Vernunft hätten. Für Glück und Gegenglück (den Geist) sind sie Experten. Aus dem Nichts geboren, leben sie eine Weile und lösen sich auf. Bei Langeweile verschwinden sie. Sie sind so gut wie tot oder tatsächlich gestorben, und sie kehren nie als dieselben zurück, so Sigmund Freud, als die sie verschwanden. Diese UNVERWECHSELBAREN bilden keine Einheit und keine Gattung. Sie treten auf als Milliarden Dämonien, und manchmal, wenn sich der beim Braunbrennen in der Sonne gebildete Pulk bei schlechtem Wetter verkrochen hat, lauern sie in ihren Verstecken. Sie zeigen ähnliche Willkür wie Zufallswolken, welche die Welt umkreisen, sind aber von diesen sehr verschieden, weil sie aus REINER BESTIMMTHEIT bestehen: Ihr Verstand richtet sich allein auf LUST und UNLUST . In dieser Unterscheidung sind die libidinösen Elementargeister unbeugsam.
Als Freddi älter wurde, alterten diese Wesenskräfte keineswegs. Sie zeigten sich nur weniger häufig. Sie meiden die Nähe von Zellen, die undurchlässig werden; sie empfinden alte Körper als unwirtliche Wegstrecken. Oft saß Freddi zu Hause unter der Tischlampe in der Nähe des Fensters und aß auf einen Schlag zwei Schachteln Kekse auf. Das tat ihr nicht gut, und sie hätte gern nach römischer Art den Finger in die Kehle gesteckt, wenn sie sich dazu nur hätte aufraffen können.
Navigatoren sind die libidinösen Kräfte nicht. Sie stammen ab von älteren Energien der Gegenwehr, sog. REPRÄSENTANZEN oder NARBEN , die auf schmerzvolle Erlebnisse antworten. Den Leidensstoff haben sie in Lustsuche verwandelt. Als blinde Poeten »führen« sie nicht.
Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich schwankte lange, ob die Libido eine kollektive oder eine individuelle Natur habe und welche die Landesgrenzen in der Republik dieser Dämonen seien. Zu diesem Zeitpunkt nahm sie an einem Kongreß teil, den noch der New Yorker René A. Spitz leitete. Oft hatte sie bemerkt, daß ein Austausch einer besonderen Gattung dieser Elementarwesen von der Mutter auf die eine Tochter und den einen Sohn stattgefunden hatte, auf den anderen Sohn und die andere Tochter dagegen nicht. Der »Fluß der Geister« schien unberechenbar.
Im Einzelmenschen selbst sterben die libidinösen Besetzungen stündlich und täglich, und sie treten ihr zweites, drittes oder zwölftes Leben zu unterschiedlichen Zeiten an, so Margarete Mitscherlichs Beobachtung. Die Gesamtzahl der Geister bleibe aber (anders als ihre Aktivität) lebenslänglich gleich, so daß man sagen könne, die Libido sterbe mit dem Menschen, in dem sie sich eingerichtet habe. Dem widersprach eine andere Beobachtung, die Margarete Mitscherlich nicht glaubte beweisen zu können, die aber ihrem geistigen Auge vorschwebte, daß nämlich die libidinösen Kräfte keinesfalls auf Personen oder Familien begrenzt seien. Sie hätten längst die Welt ergriffen, so Margarete Mitscherlich, und dann leben sie, solange es Menschen gibt.
»Leiden kann nur der Einzelne«
Theodor W. Adorno bemühte
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