Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
ging davon aus, daß nach 90 Jahren die Erinnerung der Zielgruppen an die Vorzeit ganz gelöscht, aber auch von allen Ressentiments und Gegen-Reaktionen gegen eine Zeit gereinigt ist. Eine kommunikative Landschaft, bedeckt »wie mit frischem Schnee«. Ein solches Neuland, sozusagen FRISCHES ERLEBNISLAND , biete sich für alle Stoffe, die so weit zurückliegen.
Abb.: Meine Mutter in den dreißiger Jahren.
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Abb.: Meine Mutter 1912.
Besuch in der Zukunft
Wenn in den siebziger Jahren meine Mutter mit dem Charme der dreißiger Jahre auf eine Gesellschaft junger Leute der kritischen Intelligenz zuging, die ihr nicht vertraut waren, und diese Menschen für sich zu gewinnen suchte (ohne Grund, nur aus Geselligkeit, sie hätte keinen Vorteil aus ihrer Sympathie ziehen können), genierte ich mich, statt sie zu schützen. Es blieb offensichtlich, daß ihr Ton nicht in die Zeit paßte.
Abb.: Mein Vater rechts und sein älterer Bruder Otto, links. Sie sind noch keine Ärzte, haben aber schon mal Ärztekittel angelegt.
Der gleichen Grausamkeit würde mein Vater gegenübertreten, käme er mit der Eleganz eines Studenten von 1912, mit der Umgangsform eines Arztes von 1943 oder dem angepaßteren Habitus eines DDR -Arztes von 1964 (mit großer Tasche für die im Westen einzukaufenden Mitbringsel) in unsere Gegenwart von 2011. Seine Enkel, in ihren Kreisen befangen, würden ihn für aufwendig halten. Gut, wenn er irgendwo stillgestellt wäre vor einem Teller mit Broten und mit einem Schnaps, einem Fenster oder Licht in der Nähe, und er würde erzählen.
Ich bin sein Patriot. Mein Antirealismus des Gefühls befähigt mich zu sagen: Nicht die Welt meiner beiden Eltern, sondern die Gegenwart hat Löcher. Es kommt ja nicht oft vor, daß mein Vater – inzwischen 120 Jahre alt – zu uns herantritt. Im Augenblick müßte ich ihn in das italienische Restaurant in der Grolmanstraße führen, nahe am S-Bahnhof Savignyplatz. Dorthin sind gerade die Trauergäste von der Beerdigung des Filmkritikers Michael Althen gekommen: Dieter Kosslick, Romuald Karmakar, 24 andere, alles Menschen der Gegenwart. Um auf sich aufmerksam zu machen, eröffnet mein Vater die Rede mit einer Bemerkung über die Emsigkeit der Bedienung. Er kann nicht umhin, etwas lauter zu sprechen als die Anwesenden, weil er denkt, daß er sonst nicht beachtet wird. Die Zeit ist vergangen, in der sich eine Herrenrunde durch gemeinsamen Alkoholkonsum aus einer Runde von Rivalen in eine von Plauderern verwandelt hat.
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Abb.: Die Ärzte der Garde werden in die neue, veilchenblaue Uniform umgekleidet.
Mit X mein Vater.
Welche Sprache wird in 200 Millionen Jahren gesprochen?
Man kann auf gewisse Nachtstunden zwölf bis zwanzig komplexe Computersysteme von US -Universitäten (soweit sie in der Nachtzeit nicht gebraucht werden) als Parallelrechner zusammenschalten. Dann sind die Daten von 1000 Jahren wie ein Tag. Will man aber den Prozeß der Menschheitsgeschichte für 200 Millionen Jahre in die Zukunft hochrechnen, braucht man besondere Beziehungen: die vielfache Menge an Großrechnern, zahlreiche solcher Nachtzeiten, und muß dennoch Computerkapazität des Pentagon zusätzlich heranziehen.
Mary Anne Stafford, die junge Leiterin der Special Task Unit, die in der Nacht mit ihrem Stab vor den Rechnern saß (man sieht nur einen geringen Bruchteil des zusammengeschalteten Fleißes des »Göttlichen Auges auf Zeit«), konnte man mit den Astronomen vergleichen, die nachts mit ihren Fernrohren den Kosmos betrachten. Auch deren Arbeitsstätte ist kalt. Die Notwendigkeit, die Rechner, soweit sie zum engeren Arbeitsbereich der Forschungsgruppe gehörten und nicht dezentral zusammengeschlossen waren, extrem zu kühlen, schlug auf den Beobachtungsraum zurück. So studierten die 18 Leute, die hier saßen, jahrelang in den Nächten, was aus der Menschheit in zwei Millionen Jahren werden würde. Sie wollten wissen, welche Sprachen dann übrig wären und was für Sprachen das sein könnten. Das setzte wiederum voraus, daß es Daten gäbe, was für Lebewesen unsere Nachfahren sein würden, ob sie überhaupt sich durch Sprechen und Schreiben oder »Funken in sprachähnlichen Signalen« verständigen würden.
Sieben Anläufe des Forschungsprojekts blieben vergeblich, weil das Endresultat den Untergang der Spezies voraussagte. Prof. Stafford beharrte darauf, daß dann weitergefragt werden müsse, was nach diesem Untergang geschähe. Was wären unsere Nachfahren nach Untergang der
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