Das Fuenfte Evangelium
sagen alle, er sei verrückt, wenn er ein Genie ist?«
Guthmann hob die Schultern, aber Anne von Seydlitz hatte den Eindruck, daß er etwas verschweigen wollte.
»Könnte es vielleicht sein«, frage Anne umständlich, »daß der Jesuit auf einen Hinweis gestoßen ist, der seine Welt zum Einsturz brachte?«
Da sah sie der Professor erschreckt an: »Was wollen Sie damit sagen?«
»Nun, wenn die Orphiker soviel Energie aufwenden, um hinter das Geheimnis des fünften Evangeliums zu kommen, und wenn Giovanni Foscolo ein so genialer Forscher war, dann wäre es doch denkbar, daß er das Phantom Barabbas enttarnt hat – und daß er darüber verrückt geworden ist.«
Die Worte versetzten Guthmann in Unruhe, er begann seine Akten zu sortieren, und seine Stimme klang unsicher wie zu Beginn der Begegnung. »Ich habe schon zuviel ausgeplaudert«, meinte er verlegen. »Außerdem werde ich erwartet. Wenn Sie mich entschuldigen wollen.«
»Nein, Professor Guthmann!« protestierte Anne. »Sie können hier nicht einfach verschwinden! Sie haben mich schon einmal im Stich gelassen.«
Guthmann beschwichtigte Anne mit ausholenden Handbewegungen. »Leise. In Leibethra haben alle Wände Ohren. Es wäre jedem von uns von Schaden, wenn man uns zusammen entdecken würde. Ich schlage vor, wir treffen uns morgen hier um die gleiche Zeit.« Und noch bevor Anne dem Vorschlag zustimmen konnte, hatte sich Guthmann umgedreht und war verschwunden.
10
A nne war wieder allein inmitten stummer Wissenschaft, auf der sich, bei näherem Hinsehen, der Staub festgesetzt hatte wie Schnee in einer Winterlandschaft. Und wie in einer Winterlandschaft hatte Giovanni Foscolo Spuren hinterlassen, wo er Bücher aus ihrer Reihe genommen und wieder an ihren Ort zurückgestellt hatte. Manche dieser Spuren hatten die Frische dieses oder des Vortages, andere wiederum verbargen ihr Alter unter neuem Staub, und es würde nicht lange dauern, bis sie ganz verschwunden sein würden.
Buchtitel in allen Sprachen auf den breiten Rücken tanzten vor den Augen der heimlichen Besucherin: Mithras – Mysterien und Urchristentum, The Damascus -Fragments and the Origins of the Jewish -Christian Sect , Theologische Studien und Kritiken: Wann ist Matthäus 16, 17–19 eingeschoben?, Die Apokryphen Schriften zum Neuen Testament, Liber di Veritate Evangeliorum .
Wie die Kleidung den Menschen verrät, so wiesen die Bücherrücken auf Herkunft und Alter hin; aber es fiel auf, daß manche Bücher gekennzeichnet zu sein schienen, indem ein O oder P mit schwarzem Stift oder schwarzer Tinte ausgemalt war. Und je mehr Titel Anne von den Bücherwänden ablas, desto mehr kam sie zu der Überzeugung: Fromme und erbauliche Bücher waren dies nicht, die hier aufbewahrt wurden, im Gegenteil, aus den Regalen sprang dem Betrachter eine gewisse Bedrohlichkeit entgegen. So hatte Anne beinahe Hemmungen, eines der gekennzeichneten Bücher aus dem Fach zu nehmen. Es trug den Titel ›Die apokryphen Schriften zum Neuen Testament‹, wobei der Anfangsbuchstabe D schwarz ausgemalt war, vermittelte aber beim flüchtigen Durchblättern keine aufregenden Erkenntnisse, so daß Anne es an seinen Ort zurückstellte.
Gerade in dem Augenblick, als Anne sich anschickte, über die steile Treppe nach oben zu steigen, um mit Giovanni Foscolo zu sprechen, vernahm sie Schritte, die sich dem Haus näherten, und es schien ihr ratsam, sich hinter einem der hohen Bücherregale zu verstecken. Zwei Männer in Wächteruniform, wie sie sie schon bei ihrer Ankunft in Leibethra gesehen hatte, traten durch die Tür und suchten zielstrebig den Weg in das obere Stockwerk. Anne vernahm einen kurzen, heftigen Wortwechsel, und aus ihrem sicheren Versteck, abgeschirmt durch eine Wand von Büchern, konnte sie beobachten, wie der geistesgestörte Jesuit abgeführt wurde.
Anne folgte den Männern in gebührendem Abstand. Sie verstand, was Foscolo mit lauter Stimme in die Nacht rief: »Selig, wer die prophetischen Worte liest und hört und sich an das hält, was darin geschrieben steht. Denn die Zeit ist nahe«, aber sie konnte nichts damit anfangen. Foscolo schien den Weg zu kennen, denn er ging den Wächtern durch die menschenleeren Straßen voraus bis zu einem großen, hellerleuchteten Gebäude mit weißen, undurchsichtigen Fenstern und einem Portal aus gläsernen Türen, das das Erscheinungsbild einer Klinik vermittelte.
In diesem Gebäude verschwanden Foscolo und seine Wächter, und obwohl niemand am Eingang den Zugang
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