Das Fuenfte Evangelium
gegen sie.
»Ihr hört meine Stimme?«
»Ja«, erwiderte Anne schwach und merkte, daß ihr das Sprechen schwerfiel.
»Ihr seht das Pendel vor Euren Augen?«
»Ja. Ich sehe es.« Anne sah es in der Tat, obwohl sie nicht wußte, ob sie ihre Augen offen oder geschlossen hielt.
»Konzentriert Euch auf meine Stimme und nur auf meine Stimme. Alles andere ist von nun an für Euch ohne Bedeutung. Habt Ihr mich verstanden?«
»Ja«, antwortete Anne beinahe mechanisch. Es widerstrebte ihr zu antworten, doch sie konnte nicht anders.
»Ihr werdet jetzt auf alle meine Fragen antworten, und wenn Ihr erwacht, werdet Ihr Euch an nichts mehr erinnern.«
Anne sträubte sich, sie stemmte sich mit aller Kraft gegen den eigenen Willen, aber eine unbezwingbare Macht preßte aus ihr die Antwort heraus: »Ich werde antworten und mich später an nichts mehr erinnern.«
Sie ärgerte sich über sich selbst, und am liebsten wäre sie aufgesprungen und fortgelaufen, doch sobald sie den Gedanken zu Ende dachte, überkam sie wieder die bleierne Schwere, und sie blieb regungslos.
»Was sucht Ihr in Leibethra?« drang die abstoßende Stimme auf sie ein.
»Die Wahrheit!« antwortete Anne spontan. »Ich suche die Wahrheit!«
»Die Wahrheit? – Hier werdet Ihr die Wahrheit nicht finden!«
Anne wollte fragen: Wo dann, wenn nicht hier? Aber sie fühlte, daß sie die Fähigkeit verloren hatte, Fragen zu stellen. Ihre Stimme gehorchte nicht. Unruhig wartete sie deshalb auf die nächste Frage Dr. Sargents.
»Wo habt Ihr das Pergament versteckt?« fragte die Stimme laut und eindringlich.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, erwiderte Anne, ohne nachzudenken.
»Ich spreche von dem Pergament mit dem Namen des Barabbas!«
»Kenne ich nicht.«
»Ihr habt das Pergament!«
»Nein.«
Gebannt wartete Anne auf die nächste Frage; aber Dr. Sargents Stimme schwieg. Anne wußte nicht, wo sie war, und so sehr sie sich auch mühte, irgendein Geräusch zu identifizieren, das einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort hätte geben können, sie hörte nichts und lag da wie taub. Ihr Versuch, die Augen zu öffnen, mißlang, wie überhaupt alles, was sie mit ihrem Willen durchzusetzen versuchte, an der Schwere in ihren Gliedern scheiterte, und sie begriff, daß Dr. Sargent bemüht war, sie mit Hilfe von Hypnose gefügig zu machen.
Die Worte der Ärztin schallten wie ein böses Echo in ihrem Kopf: Wo habt Ihr das Pergament versteckt … versteckt … versteckt …
Anne hatte den Gedanken hundertmal gedacht, und deshalb blieb er ihr auch in dieser Situation gegenwärtig: Wenn du das Pergament verrätst, ist dein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Sie werden dir nichts tun, solange sie nicht im Besitz des Pergaments sind.
Wie lange sie in dieser lähmenden Starre dalag, Anne vermochte es nicht zu sagen; sie hielt sich nur an den einen Gedanken, nichts zu verraten. Und auf einmal nahm sie, obwohl sie die Augen geschlossen hielt, über sich einen Schatten wahr, und Dr. Sargents Stimme tönte erneut: »Ihr werdet jetzt auf alle meine Fragen antworten und nichts von dem verschweigen, was in Eurem Gedächtnis ist.«
Anne spürte die Finger der Ärztin auf ihrer Stirn, eine unangenehme Berührung, aber sie brachte es nicht fertig, ihr auszuweichen und sich zu wehren.
»Kennt Ihr den Inhalt des Pergaments?« fragte die Stimme drängend.
Anne antwortete: »Nein, ich kenne ihn nicht.«
»Aber Ihr habt eine Kopie!«
»Niemand kann sie entschlüsseln.«
»Und das Original?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ihr wißt es genau!« Dr. Sargent stürzte auf Anne zu. Anne fühlte, wie sie von der Frau an den Armen gefaßt und geschüttelt wurde. Sie hörte die Drohungen ihrer kalten, geifernden Stimme: »Wir werden sie mit Injektionen zum Reden bringen.«
An mehr konnte sie sich nicht mehr erinnern.
12
A ls sie erwachte, lag Anne in einem abgedunkelten Raum in unnatürlicher Stille. Sie streckte sich und versuchte so, die Schwere aus ihren Gliedern zu pressen. Die Situation war durchaus angetan, Todesangst zu vermitteln, aber Anne empfand nicht die geringste Furcht. Alles, was sie an Angst hatte, hatte sich in den vergangenen Wochen aufgebraucht. Im Gegenteil, in Situationen wie dieser entwickelte sie nie gekannten Mut. Sie stand auf, tappte im Dunkeln auf einen winzigen Lichtschein zu, der einen diffusen Strich in den Raum zeichnete, und stieß gegen ein Fenster. Sie ertastete einen Griff, öffnete es und stieß auf einen hölzernen Fensterladen, den sie, nach
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