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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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verwehrte, vermied es Anne, das Haus zu betreten. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, Guido könnte, falls er wirklich noch am Leben war, sich hinter diesen Mauern aufhalten.
    Die einzigen Menschen, die ihr in dieser Situation weiterhelfen konnten, waren Dr. Sargent und Professor Guthmann. Der Ärztin mißtraute Anne; auch Guthmanns Rolle gab zu Bedenken Anlaß, aber seine Zurückhaltung schien nur ein Beweis dafür zu sein, daß er viel mehr wußte, als er eingestand.
    Am Tag darauf um die Abendstunde erschien Anne zu der Verabredung mit dem Professor. Es wunderte sie nicht, daß die Bibliothek, in der sie am Vorabend Guthmann und Foscolo angetroffen hatte, offenstand und hell erleuchtet war, obwohl niemand sich darin aufhielt. Das gehörte zu den Eigenheiten von Leibethra. Kein Mensch sollte sich allein und unbeobachtet fühlen, niemand. Neugierde trieb sie zu der Treppe, die in das obere Stockwerk führte, und obwohl Anne mit großer Behutsamkeit die hölzernen Stufen hinaufstieg, verursachte sie knarrende Geräusche, die, hätte sich jemand in dem Hause aufgehalten, ihre Ankunft verraten hätten.
    Auf dem Treppenabsatz blieb Anne stehen. Sie lauschte, und da sich nichts rührte, tat sie drei Schritte vor in Richtung auf eine geschlossene Tür. Anne verwarf den Gedanken anzuklopfen, wie es sich für einen Fremden gehörte – aber was gehörte sich schon an diesem Ort –, und sie öffnete die Tür. Zu ihrer Überraschung lag der Raum, der sich vor ihr auf tat, im Dunkeln. Anne berührte den Lichtschalter, eine helle Deckenleuchte flammte auf und beleuchtete eine einfach möblierte Studierstube. Auf einem breiten Holztisch zwischen den beiden Fenstern zur Straße stapelten sich Akten, Karten und mit Schnüren gebündeltes Papier. Die Wand zur Linken war mit Blättern beklebt, die ein unregelmäßiges Mosaik ergaben und mit Schriftzeichen versehen waren, die Anne nicht kannte, die jedoch jenen auf ihrem Pergament ähnelten. An der rechten Wand stand ein altes Sofa mit rötlichbraunem, geometrischem Muster, wie man es in Griechenland häufig sehen kann.
    Als Anne die Tür hinter sich schloß, erschrak sie, denn an einem Haken baumelte eine jener langen Kutten, in denen Foscolo aufzutreten pflegte. Zweifellos war dies Foscolos Studierstube, und Anne fragte sich, ob so das Arbeitszimmer eines Verrückten aussehe. Das vermeintliche Chaos an Papier, das sich von den Wänden über den Tisch bis auf den Fußboden fortsetzte, wo weitere Akten gestapelt lagen, ließ durchaus ein System erkennen.
    Ein dicker Einband erregte Annes besonderes Interesse. Er lag auf einem Stapel obenauf, war mit Schreibmaschine geschrieben und trug die Aufschrift: Marc Vossius. Das namenlose Grab von Minia in Mittelägypten und seine Bedeutung für das Neue Testament. Diese Entdeckung führte Anne von Seydlitz zu zwei wesentlichen Schlüssen: Vossius war in der Tat die Schlüsselfigur in dem Fall gewesen, und eine bisher unbekannte Spur führte möglicherweise nach Ägypten.
    Während sie aufgeregt in dem dickleibigen Manuskript blätterte, dessen Inhalt für Anne zum großen Teil unleserlich und unverständlich war, überkam sie mit einem Mal das Gefühl, daß jemand hinter ihr stand. Sie wollte sich umdrehen, aber Angst lähmte ihre Bewegung. In diesem Augenblick der Starrheit legte sich von hinten ein Arm um ihren Hals, und noch bevor sie sich wehren konnte, wurde ihr ein Tuch gegen Mund und Nase gepreßt, und Anne verlor das Bewußtsein.
11
    S ie erwachte im Halbschlaf; jedenfalls fand sie später die Erinnerung an das folgende Geschehen. Ob sie das alles geträumt oder ob es sich in Wirklichkeit so zugetragen hatte, vermochte sie nicht mehr zu sagen. Sie wußte auch nicht, wo das folgende stattgefunden hatte, sie sah nur eine Frau, die aus dem Dunkeln auf sie zutrat und ihr, die sie mit schweren Gliedern dalag, ein Pendel vor die Augen hielt, das mit zappelnden Bewegungen hin- und herschwang.
    Da begann die Unbekannte zu sprechen, sie redete mit leisen, eindringlichen Worten auf Anne ein, und obwohl ihr Gesicht im Dunkeln blieb, erkannte sie Dr. Sargent an ihrer Stimme. Sie klang dumpf und anders, als sie sie gesprächsweise kennengelernt hatte, und der Atem der Frau ging schwer, als habe sie eine anstrengende Arbeit zu verrichten.
    Der Tonfall, mit dem Dr. Sargent auf sie einredete, wirkte auf Anne so abstoßend wie die ganze Erscheinung der Frau, und obwohl sie nicht in der Lage war, sich zu bewegen, wehrte sie sich mit aller Kraft

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