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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Entriegelung eines Schlosses, einen Spalt aufstieß.
    Die Helligkeit schmerzte in ihren Augen, und es dauerte lange, bis Anne sich daran gewöhnt hatte. Zuerst sah sie nur Himmel; doch als sie ihren Blick senkte, sah sie tief unter sich gebirgiges Land, und ihr wurde klar, daß sie sich in der Oberstadt befand. Sie war entdeckt, und sie mußte erkennen, daß sie sich keineswegs heimlich in Leibethra eingeschlichen, sondern von Anfang an unter Beobachtung gestanden hatte.
    Für Anne gab es keinen Grund, den Laden geschlossen zu halten, also ließ sie das helle Tageslicht in das Zimmer, und sie erkannte einen karg möblierten Raum mit nackten Bodenbrettern und ein weißgestrichenes Eisenbett von ausgeprägter Scheußlichkeit. Die Tür hatte wie alle Türen in Leibethra kein Schloß, war also unversperrt, und ein Blick nach draußen ließ einen unendlich langen, mit vielen Türen versehenen Gang erkennen.
    Es erschien ihr nicht angebracht, die Umgebung zu erkunden. Allein die Tatsache, daß man sie auch hier nicht eingesperrt hatte, ließ erkennen, wie sicher die Orphiker sich fühlten. Offenbar gab es keine Chance zur Flucht. In der gegenwärtigen Situation war Anne dazu auch viel zu müde. Ihr Kopf schmerzte, und sie kämpfte, nachdem sie sich auf dem Eisenbett niedergelassen und den Kopf in den Händen vergraben hatte, mit dem Schlaf, und zu alldem war ihr hundeübel. Und während Anne vor sich hin in das seltsame Zimmer starrte, fiel ihr Blick auf einen Stuhl, über den sauber gebügelte Kleider gelegt waren, und erst jetzt bemerkte Anne, daß sie ein langes, steifes Nachthemd trug wie in psychiatrischen Anstalten üblich, und sie erschrak vor ihrer eigenen Erscheinung.
    Aber je länger sie den Blick auf die Kleider gerichtet hielt – dabei wischte sich Anne die Augen mit den Händen aus, denn sie glaubte zu träumen –, desto heftiger ging ihr Atem, ihr Herz schlug bis zum Hals, das Blut pochte in ihren Schläfen. Die Kleidungsstücke vor ihr auf dem Stuhl gehörten Guido.
    Anne erhob sich und ging vorsichtig, als könnten die Kleider plötzlich zum Leben erwachen und sie angreifen, auf den Stuhl zu. Über der Lehne hing das Sakko, die Hose lag auf der Sitzfläche, von der die Hosenbeine herabhingen.
    Anne verspürte zunächst Hemmungen, die Kleidungsstücke zu berühren, aber dann gab sie sich einen Stoß, und sie erkundete die Innenseite des Sakkos, in der sie das Etikett eines Münchner Schneiders wußte. In der Tat – es war Guidos Anzug.
    Anne ließ das Kleidungsstück fallen, als hätte sie sich die Finger verbrannt. Drohend stand auf einmal das Bild Guidos vor ihr. Anne fühlte, wie Panik in ihr hochkroch. Was war das für ein grausames, makabres Spiel, das Guido, das die Orphiker oder wer auch immer sich hinter all dem verbergen mochte, mit ihr trieben?
    Eben wollte sie das kalte Zimmer verlassen, da hörte Anne auf dem Gang die langsamen und schweren Schritte eines Mannes.
    Guido!
    Sie zitterte am ganzen Körper; sie fühlte, wie ihre Knie nachgaben. Hilflos klammerte sie sich an das eiserne Bett, und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Tür.
    Die Schritte kamen näher, und je mehr sie sich näherten, desto bedrohlicher empfand Anne das Geräusch, das sie verursachten. Schließlich, vor der Tür, blieben sie stehen. Es klopfte.
    Annes Kehle war wie zugeschnürt. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte es nicht fertiggebracht zu antworten. Sie rang nach Luft, und dabei sah sie, wie langsam die Klinke niedergedrückt und die Tür geöffnet wurde. Anne wollte schreien, aber sie konnte nicht, sie konnte nur zusehen, wie ihr die Tür entgegenkam.
    Für Sekunden standen sie sich wortlos gegenüber: Anne und – Thales. Es war der Rotbäckige, und er fand zuerst die Sprache: »Ihr habt mich wohl nicht erwartet?« meinte er mit jenem unverschämten Grinsen, das sie schon kannte, und das sein breites rosiges Gesicht noch röter erscheinen ließ.
    Anne, noch immer nicht fähig zu sprechen, schüttelte heftig den Kopf. Sie hatte geglaubt, auf den Schock vorbereitet zu sein, den ihr die Begegnung mit Guido bereitet hätte. Aber nun, da ihr dieses Zusammentreffen erspart geblieben war, mußte sie erkennen, daß sie der Situation in keiner Weise gewachsen war, und sie wünschte nur das eine, daß Guido tot war, tot, tot, tot!
    »Seit unserer letzten Begegnung in Berlin«, begann der Rotbäckige grinsend, »habt Ihr uns mit Eurem Verhalten nur Schwierigkeiten bereitet, und ich will Euch nicht

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