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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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während der gesamten Unterhaltung ihren Mund beobachtet hatte, als wolle es jedes Wort von ihren Lippen ablesen. Am Nachmittag, den die Frauen in kleinen Gruppen im Freien verbrachten, wobei Anne zum ersten Mal die gewaltige Ausdehnung der Felsenstadt hoch über ihren Köpfen erkennen konnte, steckte ihr das taubstumme Mädchen unbemerkt von den beiden Wärtern und von Dr. Sargent einen kleinen, gefalteten Zettel zu. Das Papier enthielt eine Zeichnung, aus der Anne bei näherer Betrachtung einen Plan erkennen konnte mit zunächst unverständlichen Markierungen und Pfeilen, an deren Anfang sie ihre Unterkunft erkennen konnte, während am Ende das Wort ›Johannes‹ zu lesen war, zweimal unterstrichen.
    Obwohl Anne während des Tages nach Johannes Ausschau hielt, bekam sie den beklagenswerten Evangelisten nicht zu Gesicht, so daß sie sich abends, trotz Verbots, heimlich auf die Suche machte. Dabei leistete ihr die Zeichnung des Mädchens wertvolle Dienste; denn Leibethra war eine verwinkelte Ansammlung von Häusern und Gäßchen und glich einem Labyrinth wie dem des Minotaurus auf Kreta; und niemand wunderte sich mehr darüber als Anne selber, daß sie keine Furcht verspürte, als sie sich mutterseelenallein auf den Weg machte.
    Ihr einziges Bedenken galt der Möglichkeit, in einer der hellerleuchteten Gassen Guido zu begegnen. In diesem Fall, wenn Guido plötzlich vor ihr gestanden hätte, wußte sie nicht, wie sie reagieren solle. Fortlaufen? Oder auf ihn zugehen und mit der Hand ins Gesicht schlagen? Oder eine hämische Bemerkung machen über einen schlechten Schauspieler?
    Die Häuser von Leibethra trugen keine Nummern, sondern Buchstaben oder Codewörter, und das machte die Orientierung für einen Unbefugten beinahe unmöglich. Doch die Zeichnung des taubstummen Mädchens erwies sich als so exakt, daß Anne sogar von der vorgeschriebenen Route abwich und einem fremdartigen Geräusch nachging, das sich wie das Winseln einer Katze oder eines Hundes oder von beiden anhörte.
    Wie alle Gebäude war auch dieses nicht verschlossen; man brauchte nur den eisernen Riegel an dem einflügeligen Holztor zurückzuschieben und fand Zugang zu einem Innenhof, in dem sich über drei Stockwerke, verbunden durch steile Holztreppen, vergitterte Käfige von unterschiedlicher Größe türmten. Obwohl nicht einmal die Hälfte der Käfige belegt war, herrschte in dem Innenhof große Unruhe, so daß Annes Eintreten nicht einmal bemerkt wurde.
    Das laute Winseln kam aus einem Käfig im Erdgeschoß, und als sie vor die unruhigen Tiere hintrat, erkannte sie zwei furchterregende Fabelwesen, Windhunde mit einem Katzenkopf und einem unbehaarten Schwanz. Man hätte sie von weitem für Hunde halten können, wären da nicht ihre katzenhaften Bewegungen gewesen, mit denen sie sich unter Zuhilfenahme scharfer Krallen an einem Baumstumpf emporzogen.
    Anne erschrak über diese verunstalteten Katzenwesen, aber unwillkürlich forschte sie in den übrigen Käfigen nach weiteren Schöpfungen der verantwortungslosen Tierzüchter. Da gab es Ziegenschafe mit buschigen Hundeschwänzen und ein Schwein mit Hörnern wie ein Geisbock und doppelt so lang wie ein normales Tier, daß der Bauch auf dem Boden schleifte.
    Der größte Käfig war einem schwarzbraunen Ungeheuer vorbehalten, das einem Orang-Utan glich, aber nur vom Nabel abwärts. Der Oberkörper des Ungeheuers hingegen – und das war das Erschreckendste – zeigte eine rosige, nackte Haut wie ein Mensch. Unnatürlich lang hingen die Arme herab, die Hände, jedoch vor allem die Fingernägel, waren die eines Menschen. Der kahle, stark gerötete Kopf mit winzigen Ohren glich dem eines Catchers, und die Augen unter den wulstigen Brauen blickten Anne mit solcher Klarheit an, daß es sie nicht gewundert hätte, wenn das Ungeheuer zu sprechen begonnen und sie durch das Gitter gefragt hätte, was sie hier zu suchen habe.
    Diese Vorstellung versetzte Anne in Unruhe, und sie verließ die schauervolle Zuchtstation überstürzt und nahm die Fährte wieder auf, die ihr das taubstumme Mädchen aufgezeichnet hatte. Diese führte aus einer engen Häuserreihe heraus über einen Platz, an dessen gegenüberliegender Seite drei hohe, offene Tore den Blick in eine gewaltige Felsenhöhle freigaben, aus der das monotone Summen von Generatoren und Aggregaten drang. Auf dem Platz herrschte geschäftiges Treiben, so daß Anne kaum auffiel, als sie die Einfahrt in das Gewölbe in Augenschein nahm, von wo mehrere Aufzüge in

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