Das Fuenfte Evangelium
die Oberstadt führten.
Die Menschen, die hier ein und aus gingen und nach oben schwebten, unterschieden sich auffallend von den übrigen Einwohnern von Leibethra. Nur wenige trugen kurzgeschorene Haare, und ihre meist dunkle Kleidung wirkte vornehm und klerikal. Keiner redete mit einem anderen, und die, die sich begegneten, würdigten sich keines Blickes.
Offenbar gab es keine Wachen, die irgend jemanden daran hinderten, in die Oberstadt von Leibethra zu gelangen. Das verblüffte Anne, wie sie überhaupt erstaunt war über die nachlässigen Sicherheitsmaßnahmen an diesem Ort. Zwar bekam sie martialisch aussehende, bewaffnete Wärter zu Gesicht, doch diese zeigten sich nur selten, und ihr Erscheinen erregte auch keine Furcht. Ruhe und Disziplin, die überall herrschten, wirkten auf Anne in gewisser Weise rätselhaft; schließlich handelte es sich um eine geschlossene Anstalt von gewaltigem Ausmaß.
Mit dem Plan des taubstummen Mädchens in der Hand suchte Anne weiter den Weg zu Johannes, dem verwirrten Evangelisten, von dem sie sich neue Informationen erhoffte.
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S ie fand das Haus hinter einer Biegung der beschriebenen Gasse, kenntlich, wie aus dem Zettel hervorging, an einem eisernen Brunnenrohr, das wie ein Kanonenlauf aus der Hauswand ragte. Aus dem Rohr plätscherte ein dünnes Rinnsal auf das Pflaster.
Erwartet hatte Anne von Seydlitz eine Krankenstation ähnlich jener, in der sie untergebracht war; zu ihrer Verwunderung jedoch verbarg sich in dem Haus eine Bibliothek oder wie immer man die Ansammlung von Büchern und Folianten in den düsterverstaubten Räumen nennen mochte. Beim Eintreten durch die unverschlossene Tür und nach Durchquerung eines Vorraumes, der zu einer schmalen schwarzen Eichentreppe führte, wurde Anne Zeuge einer Unterhaltung, die in einem Nebenraum stattfand, aus welchem ein heller Lichtschein fiel.
Zunächst verstand Anne nur zusammenhanglose Wörter, weil die beiden Stimmen in höchster Erregung sprachen, aber allmählich wurde ihr der Inhalt der Diskussion klar. Vor allem glaubte sie sicher zu sein, in einer der beiden Stimmen den Evangelisten Johannes zu erkennen, der mit erregter Stimme gegen den anderen wetterte. Das versetzte Anne insofern in Erstaunen, als Johannes, den sie als einen verwirrten Menschen kennengelernt hatte, von seinem Gegner durchaus ernst genommen wurde; auch gaben seine Worte keinen Anlaß, an seinem Verstand zu zweifeln.
Das Thema, um das es ging, war der erste Johannesbrief, in dem dieser seine Leser in Kleinasien vor Irrlehrern warnt, die vor allem dann in besonderer Zahl aufträten, wenn das Ende der Welt nahe. Über diese Worte machte sich der Unbekannte lustig, und er verwies auf Matthäus 24, daß selbst Jesus vor Falschpropheten und falschen Messiassen gewarnt habe, was zwar nicht grundlos geschehen, aber ohne Nutzen geblieben sei.
Anne vermochte der fachlichen Diskussion nur oberflächlich zu folgen, sie sah sich neugierig in dem düsteren Vorraum um. Zimmer, in denen Bücher einen großen Teil der Möblierung darstellen, strahlen für gewöhnlich Ruhe und Harmonie aus; doch in diesem Raum wirkten die unzähligen Bücher wie Bausteine eines gewaltigen Chaos. In der Hauptsache rührte das daher, weil viele Bücher nicht ihre kaschierten Rücken zeigten, sondern die nackte, weiße Vorderseite oder die ebensolche Oberseite (was daher rührte, daß sie entweder verkehrt, also mit dem Rücken zur Wand, oder auf dem Rücken, also mit der Unterseite zur Wand aufgestellt waren). Hinzu kam, daß aus nahezu jedem zweiten Buch einzeln oder stapelweise Papiere quollen, und der Staub, der sie einhüllte, ließ vermuten, daß sie ihre einstige Bedeutung und ihren Inhalt längst überlebt hatten. Einrichtung gab es keine, wenn man von dem hohen, quadratischen Holztisch und einem Stuhl in der Mitte des Raumes absah.
Die Diskussion der beiden Männer endete abrupt, und Anne versteckte sich hinter einem Mauervorsprung an der Rückseite. Zuerst erschien Johannes in der Tür; er schüttelte verärgert den Kopf, murmelte ein paar unverständliche Worte und stieg die schmale Holztreppe empor in das obere Stockwerk, wo er eine Tür mit lautem Knall zuschlug.
Wenig später folgte der andere mit einem Bündel Akten unter dem Arm. Anne erkannte ihn sofort, aber die unerwartete Begegnung ließ sie verstummen, als sie aus dem Schatten auf den Mann zutrat. Natürlich hatte sie auch diese Stimme schon einmal gehört; sie erinnerte sich:
Guthmann.
Der erkannte sie nicht
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