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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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gleich, weil Anne noch immer ein schwarzes Tuch um die Stirn trug, wie ein Turban verschlungen, um ihren Verband zu verstecken.
    »Ich bin Menas«, trat Guthmann auf Anne zu und neigte den Kopf zum Gruß.
    »Menas? Sie sind Professor Werner Guthmann!« erwiderte Anne, die ihre Haltung wiedergefunden hatte. »Und Sie schulden mir noch eine Antwort.«
    Guthmann trat näher und stammelte verlegen: »Ich verstehe nicht …«
    »Ich bin Anne Seydlitz.«
    »Sie?« Guthmann erschrak. Anne konnte sehen, wie der Mann zusammenfuhr und wie seine Finger sich in die Akten krallten. »Aber das ist doch nicht möglich!« rief er aus.
    Anne gab sich unerwartet selbstbewußt; sie trat einen Schritt auf Guthmann zu und bemerkte in spitzem Tonfall: »In diesen Mauern ist alles möglich. Oder meinen Sie nicht?«
    Guthmann nickte zustimmend. Wie er sich hilflos an seinen Akten festhielt, konnte man erkennen, daß ihm die Begegnung nicht nur peinlich, sondern äußerst unangenehm war. Anne hätte sich nicht gewundert, wenn der verwirrt wirkende Mann plötzlich fortgelaufen wäre.
    »Sie schulden mir noch eine Antwort«, wiederholte Anne eindringlich. »Ich habe Ihnen eine Pergamentkopie überlassen mit einem koptischen Text, aber statt ihn zu übersetzen, sind Sie einfach verschwunden.«
    »Ich habe Sie gewarnt«, entgegnete Guthmann, ohne auf Annes Worte einzugehen. »Hat man Sie hierher verschleppt?«
    »Verschleppt?« Anne lachte gekünstelt. »Ich bin freiwillig hierher gekommen. Ich will wissen, was hier gespielt wird.«
    Guthmann blickte ungläubig, beinahe hilflos, und in weinerlichem Tonfall meinte er: »Kein vernünftiger Mensch kommt freiwillig nach Leibethra.«
    »Warum sind Sie dann hier?« fragte Anne.
    »Nun ja, ich bin auch freiwillig hier, wenn man so will«, gab der Professor zu. »Unter dem Zwang der Versuchung – es war eine gut ausgelegte Schlinge, und jetzt steckt mein Hals drin.«
    »Und was machen Sie hier?«
    Guthmann nickte, als habe er die Frage erwartet, und er erwiderte: »Sie brauchen mein Wissen und meine Arbeit …«
    »… weil Vossius tot ist und weil er der einzige war, der von dem Geheimnis um Barabbas Bescheid wußte!«
    »Mein Gott, woher wissen Sie?«
    »Herr Professor Guthmann«, begann Anne förmlich, »ich hetze seit Monaten einem Phantom hinterher, das an den verschiedensten Orten der Welt Spuren hinterlassen hat. Der Name dieses Phantoms ist Barabbas. Und wie es den Anschein hat, hat es sich in ein Evangelium eingeschlichen, das die Bibelwissenschaft bisher nicht kannte. Es ist sozusagen das fünfte Evangelium.«
    »Sie wissen zuviel!« rief Guthmann entsetzt. »Warum lassen Sie die Sache nicht auf sich beruhen?«
    »Ich weiß noch immer zu wenig. Vor allem will ich die Wahrheit über das Doppelleben meines Mannes erfahren. Kennen Sie Guido von Seydlitz?«
    »Nein«, beteuerte Guthmann.
    »Eigentlich müßte ich sagen: Kannten Sie Guido von Seydlitz; denn eigentlich kam er bei einem Autounfall ums Leben, und ich habe für seine Beerdigung zweieinhalbtausend Mark bezahlt. Aber vor drei Tagen stand er hier nachts auf der Straße und rief meinen Namen, und er saß auch schon nachts zu Hause in unserer Bibliothek. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Jedenfalls gebe ich nicht auf, bis ich nicht völlige Klarheit habe.«
    Eine Weile sagte Guthmann kein Wort, er blickte vor sich auf den Boden, dann erkundigte er sich bei Anne: »Und warum kommen Sie hierher?«
    »Ganz einfach«, antwortete sie, »der Mann, den sie den Evangelisten nennen, war der erste, dem ich hier begegnet bin. Man sagt, er sei verwirrt, und tatsächlich macht er bisweilen auch den Eindruck; aber als ich vorhin Zeuge Ihrer Diskussion wurde … jedenfalls habe ich den Eindruck, daß er irgend etwas weiß. Wer ist dieser Mann?«
    »Sein Name ist Giovanni Foscolo, aber das ist ohne Bedeutung. Er ist ein italienischer Jesuit und ein Genie auf seinem Gebiet. Er ist Neutestamentier und kann nicht nur die vier Evangelien und die Apostelgeschichte auswendig, er zitiert auch alle Briefe des Apostels Paulus an die Römer, Korinther, Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, Thessaloniker, an Timotheus, Titus und Philemon sowie die Offenbarung des Johannes aus dem Gedächtnis. Vor allem aber kennt er alle Querverbindungen, also von Matthäus 16, 13–20 zu Markus 8, 27–30 oder Lukas 9, 18–21. Wirklich ein Genie.«
    »Deshalb die vielen alten Bücher und Folianten!« bemerkte Anne und sah sich in dem düsteren Raum um. »Aber warum

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