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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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vor Schlangen zum Beispiel durch Berühren einer Schlange, die Angst vorm Fliegen durch eine Fliegerausbildung – in Guidos Kleidern empfand sie mit einem Mal keine Angst mehr vor Guidos Erscheinung, ja, sie nahm sich vor, diesem makabren Spiel endlich auf den Grund zu gehen.
    Der lange Korridor vor ihrem Zimmer wurde an beiden Enden von undurchsichtigen Glastüren verschlossen, doch auch diese Türen waren nicht abgesperrt. Alles erinnerte an eine Krankenstation. In der Mitte befand sich eine Art Ärzte- oder Schwesternzimmer mit Schiebefenstern zum Flur. Das Zimmer war leer. Neugierig lauschte Anne an den Türen, aber sie vernahm keinen Laut. Die Einsamkeit vermittelte ein beklemmendes Gefühl, und Anne begann eine Tür nach der anderen zu öffnen; dabei wurde ihre Vermutung bestätigt: Es handelte sich um eine Krankenstation ohne Patienten.
    Die Leere, die ihr überall entgegenstarrte, war geeignet, einen normalen Menschen verrückt zu machen, und gewiß, dachte Anne, steckte sogar System dahinter. Jedenfalls begann sie zuerst bedächtig, dann immer schneller, eine Tür nach der anderen auf dem endlosen Korridor aufzureißen und wieder zu schließen, nachdem sie festgestellt hatte, daß sich niemand darin aufhielt.
    Im letzten Zimmer auf der ihrem Zimmer entgegengesetzten Seite des Korridors hielt Anne inne. Sie erschrak, weil sie dreißig oder vierzig leere Krankenzimmer gesehen hatte, doch in diesem lag ein Patient. Anne trat näher.
    »Adrian!«
    Der Patient war Adrian Kleiber.
    Es gibt Situationen, die treffen einen mit solcher Wucht, daß man zu keinem klaren Gedanken fähig ist, und der Verstand weigert sich, die Realität zu verarbeiten. In einer solchen Situation befand Anne sich in diesem Augenblick: das einzige, was sie hervorbrachte, war: »Adrian!« Und noch mal: »Adrian!«
    Kleiber machte einen apathischen Eindruck, er wirkte jedenfalls weit weniger bestürzt als sie und lächelte freundlich. Es konnte kein Zweifel bestehen, er stand unter Drogen.
    »Erkennst du mich, Adrian?« fragte Anne.
    Kleiber nickte, und nach einer Weile sagte er: »Natürlich.«
    In Anbetracht ihrer Verkleidung und der kurzgeschorenen Haare war dies keineswegs selbstverständlich. »Was haben sie mit dir gemacht?« fragte Anne wütend.
    Da schob Kleiber den linken Ärmel seines Pyjamas zurück und blickte auf seinen Unterarm. Der war von Nadeleinstichen übersät. »Sie kommen zweimal am Tag«, sagte er müde.
    »Wer?« rief Anne erregt, und über ihren Augen bildete sich eine senkrechte Falte.
    »Mit Namen hat sich noch keiner vorgestellt.« Er rang sich ein Lächeln ab.
    In der Zwischenzeit hatte Anne die ganze Tragweite der Situation begriffen, nun bestürmte sie Kleiber mit tausend Fragen. Kleiber antwortete mühsam, aber klar, und so erfuhr Anne von Seydlitz, daß Adrian von einem Kommando der Orphiker entführt und auf abenteuerlichen Wegen über Marseille nach Saloniki gebracht worden war.
    »Aber das ist doch Wahnsinn!« tobte Anne, »Interpol wird dich suchen. Du kannst doch nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden, du nicht!«
    Kleiber machte eine abweisende Handbewegung: »Diese Leute sind eiskalte Gangster. Sie müssen mich tagelang beobachtet und ausgeforscht haben. Jedenfalls wußten sie, daß ich im Besitz eines Flugtickets nach Abidjan war. Sie kannten das Abflugdatum und die Flugnummer, und als ich in Le Bourget ankam, zerrten sie mich in ein Auto. Dann verlor ich das Bewußtsein. Als ich zu mir kam, befand ich mich mit drei Männern, die wie Priester gekleidet waren, in einer Limousine auf dem Weg nach Südfrankreich. Kein Mensch wird mich suchen. Offiziell bin ich an die Elfenbeinküste geflogen.«
    »Und wie lange bist du schon hier?«
    »Ich weiß es nicht. Fünf, sechs Tage, vielleicht zwei Wochen. Ich habe jeden Begriff für Zeit verloren. Diese gottverdammten Injektionen.«
    »Und die Verhöre? Haben sie dich ausgequetscht?«
    Kleiber rang nach Luft; man sah, wie er sich mühte, irgendeine Erinnerung zu finden, wie er versuchte, keine Schwäche zu zeigen. Schließlich schüttelte er den Kopf: »Nein, es gab keine Verhöre, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, befragt oder belästigt worden zu sein. Ich müßte mich doch erinnern.«
    Anne bemerkte mit einer gewissen Bitterkeit: »Die Leute hier verstehen etwas von Drogen, und es gibt Mittel, die für eine begrenzte Zeit jede Erinnerung ausschließen. Allerdings lähmen sie auch das Gedächtnis, so daß diesen Leuten damit nicht

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