Das Fuenfte Evangelium
gedient wäre. Nein, ich glaube, sie wollen dich ganz allmählich gefügig machen, und irgendwann werden sie damit beginnen, dich auszuquetschen.«
Adrian faßte Annes Hand. Der Freund, der sonst jeder Situation gewachsen und nie um eine Idee verlegen war, machte einen beklagenswert hilflosen Eindruck. »Was sie nur von mir wollen«, stammelte er weinerlich. In diesem Augenblick der Hilflosigkeit des Mannes empfand Anne auf einmal tiefe Zuneigung zu Kleiber: Ja, sie glaubte zu erkennen, daß die Augen des weltgewandten Journalisten Adrian Kleiber sie um Hilfe anflehten. Und während sie seine Rechte zwischen ihre beiden Hände nahm, sagte Anne leise: »Es tut mir leid wegen damals in San Diego.«
Adrian nickte, als wollte er sagen: Das Bedauern liegt auf meiner Seite. Sie sahen sich an und verstanden sich, sie verstanden sich besser als je zuvor.
Es bedarf ungewöhnlicher Situationen, um zueinanderzufinden, und sie dachten nun wohl beide dasselbe: an die Nacht in dem Münchner Hotel, als sie – für beide unerwartet – miteinander geschlafen hatten, in einem Anflug von Wahnsinn, ausgelöst durch Guidos nächtliches Erscheinen in seinem Arbeitszimmer. Ja, sie hatten wirklich beide denselben Gedanken, denn Adrian begriff sofort, was sie meinte, als Anne unvermittelt sagte: »Er ist hier. Ich habe ihn zweimal gesehen.«
»Und du glaubst, er ist es?« fragte Kleiber und betrachtete ihren Männeranzug.
»Ich weiß selbst nicht mehr, was ich glauben soll, und es ist mir auch ganz egal; möglich ist alles. Die Tatsache, daß du hier bist und wir uns unterhalten, ist nicht weniger verrückt. Als ich dich sah, habe ich im ersten Augenblick ebenso an meinem Verstand gezweifelt wie damals, als ich Guido begegnete.«
»Anne«, sagte Kleiber und drückte ihre Hand noch fester, »was haben diese Leute mit uns vor?«
Der Tonfall seiner Stimme verriet Angst. Dies war nicht der Adrian, den sie kannte, dies war ein menschliches Wrack, von tausend Ängsten gepeinigt. Obwohl selbst nicht frei von Angst, befand Anne von Seydlitz sich in weit besserer Verfassung. Ihre Gefühle hatten jene hohe Grenze überschritten, an der Angst in Wut umschlägt, Wut gegen die Verursacher der Angst.
»Du mußt dich nicht fürchten«, sagte sie. »Solange du nichts ausplauderst, werden sie dir nichts tun. Sie haben dich nicht hierhergebracht, um dich umzubringen, das hätten sie auch in Paris tun können. Denk nur an Vossius. Nein, sie haben dich hierhergeholt, weil sie von dir den Verbleib des Pergaments erfahren wollen. Und solange sie den nicht kennen und glauben, du könntest ihnen in dieser Sache einen entscheidenden Hinweis geben, solange mußt du dich nicht fürchten, hörst du!«
»Aber was können wir tun? Früher oder später werden sie alles Wissen aus uns herauspressen. Sie scheuen vor nichts zurück. Was sollen wir tun?« Verzweiflung stand in Kleibers Gesicht geschrieben.
»Vor allem dürfen wir uns nicht unserem Schicksal ergeben!« erwiderte Anne ermunternd. »Wir müssen versuchen, hier herauszukommen.«
»Unmöglich«, bemerkte Kleiber, »sie fühlen sich so sicher, daß sie es nicht einmal für nötig erachten, ihre Gefängnistüren abzuschließen.«
»Das ist unsere Chance, und es ist die einzige.«
14
A nne rückte näher an Kleiber heran, und die folgende Unterhaltung fand nur im Flüsterton statt. »Seit Tagen beobachte ich von meinem Fenster aus eine kleine Materialseilbahn. Sie verkehrt unregelmäßig, und zur Bergstation hat man ungehinderten Zugang.«
»Du meinst …« Kleiber sah Anne an.
»Adrian, es ist unsere einzige Chance! Nicht ganz ungefährlich, aber ich habe gesehen, daß in der hölzernen Gondel sogar Ölfässer transportiert werden. Ein Faß Öl wiegt soviel wie du und ich zusammen. Ich glaube, das Risiko, hier umzukommen, ist größer als das Risiko der Flucht.«
Kleiber nickte apathisch, und nach einer Weile des Nachdenkens, das ihm deutlich Kraft abverlangte, sagte er mit trauriger Stimme: »Ich würde sofort mitmachen, aber es geht nicht. Ich schaffe das nicht. Diese Injektionen lähmen jeden Unternehmungsgeist. Versuche es allein. Vielleicht gelingt es dir später, mich auf andere Weise hier herauszuholen.«
In den langen Korridoren näherten sich Schritte.
»Die Ärztin mit meiner nächsten Spritze«, bemerkte Kleiber entmutigt.
Der Hinweis versetzte Anne in Aufregung. Man durfte sie hier unter keinen Umständen antreffen, dann wäre alles aus.
Was in dem nächsten Augenblick geschah,
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