Das Fuenfte Evangelium
verheimlichen, daß Ihr ein gefährliches Spiel treibt, ein sehr gefährliches Spiel sogar.«
»Wo – ist – Guido?« stotterte Anne, als hätte sie Thales' Worte überhaupt nicht gehört, und dabei deutete sie auf die Kleidungsstücke auf dem Stuhl. Die Abneigung, die sie von Anfang an gegen diesen Mann verspürt hatte, war nun zu Haß geworden. Annes Haß hätte gereicht, ihn zu töten.
»Wo befindet sich das Pergament?« fragte Thales ungerührt und ohne auf ihre Frage einzugehen und fügte kühl hinzu: »Ich meine natürlich das Original«, wobei er mit der ihm eigenen ungewöhnlichen Heftigkeit Luft durch die Nase preßte.
Als er merkte, daß Anne nicht gewillt war, zuerst auf seine Fragen zu antworten, besann er sich und sagte mit jener abstoßenden Art von Selbstbeherrschung, die ihn auszeichnete: »Ihr wart mit Guido von Seydlitz verheiratet? Sagtet Ihr nicht, er sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen?«
Die Eiseskälte, mit der Thales ihr begegnete und sie der Lächerlichkeit preisgab, ließ Anne verzweifeln. »Ja«, erwiderte sie, »bei einem Verkehrsunfall.«
»Ich wiederhole meine Frage: Wo ist das Pergament? Wenn Ihr wollt, können wir über jede Summe verhandeln. Also?«
»Ich weiß es nicht«, log Anne, und sie mühte sich, die gleiche Selbstbeherrschung an den Tag zu legen wie ihr Gegenüber. Jedenfalls klang es äußerst provozierend, als sie kühl hinzufügte: »Und wenn ich es wüßte, bin ich nicht sicher, ob ich es Ihnen verraten würde.«
»Nicht für eine Million?«
Anne hob die Schultern. »Was ist schon eine Million im Vergleich zu jener Lebensversicherung, der das Wissen um das Pergament gleichkommt. Glauben Sie ernsthaft, es wäre mir verborgen geblieben, daß alle, die über das Pergament Bescheid wußten, elend umgekommen sind? Da bleibt für die Tatsache, daß ich noch am Leben bin, doch nur eine einzige Erklärung.«
Thales machte nicht den Eindruck, als würde er über Annes Worte lange nachdenken. Er schüttelte unwillig den Kopf, und der Geste konnte man entnehmen, daß er nicht geneigt war, auf Vorhaltungen zu antworten. Der Mann war jedoch viel zu intelligent, um nicht umgehend seine Strategie zu ändern: Anne von Seydlitz hatte recht, sie verfügte über die besseren Karten – jedenfalls mußte Thales das glauben, und mit Drohungen würde er bei dieser Frau überhaupt nichts ausrichten.
Deshalb wechselte er den Tonfall und begann mit aufgesetzter Freundlichkeit zu berichten, daß sie seit ihrer Ankunft in Thessaloniki von den Orphikern beobachtet worden sei, und als er den Zweifel in ihrem Gesicht erkannte, bemerkte Thales mit einem Lächeln: »Ich glaube, Ihr unterschätzt mich ein wenig. Meint Ihr wirklich, es sei Euch gelungen, Euch heimlich in Leibethra einzuschleichen?«
»Ja«, erwiderte Anne mit herausfordernder Offenheit, »jedenfalls gab es niemanden, der mich entdeckt und am Betreten von Leibethra gehindert hätte.«
Wütend wie ein gereizter Stier blies Thales die Luft durch die Nase: »Wenn Ihr Leibethra betreten habt, dann entsprach das meinem Wunsch«, fauchte er; aber schon im nächsten Augenblick setzte er wieder sein abstoßendes Lächeln auf: »Georgios Spiliados, der Bäcker aus Katerini, der Euch hierher gebracht hat, ist einer von uns. Das nur nebenbei.«
»Aber das ist doch nicht möglich!« rief Anne von Seydlitz entsetzt.
»Ich sage doch, Ihr habt mich unterschätzt. Hier in Leibethra ist nichts dem Zufall überlassen. Was hier geschieht, geschieht, weil wir es wollen. Habt Ihr geglaubt, Euch hier unbemerkt einschleichen zu können? Dieser Gedanke ist ebenso absurd wie die Idee, man könnte aus Leibethra fliehen. Versucht es, es wird Euch nicht gelingen. Nur ein Narr würde einen solchen Entschluß fassen. Ihr seht ja, in Leibethra gibt es keine verschlossenen Türen. Wozu auch?«
Mit dem Gedanken, daß Georgios zu den Orphikern gehörte, konnte sich Anne nicht abfinden. »Georgios hat nicht nur Gutes über Sie gesprochen«, sagte sie nachdenklich, »und ich mußte ihn mühsam überreden, mich hierher zu bringen. Ich habe ihn gut bezahlt.«
Thales hob grinsend die Schultern und bog die Handflächen nach außen: »Um ans Ziel zu gelangen, ist uns jedes Mittel recht, versteht Ihr das?«
Dem konnte Anne nur beipflichten, aber sie schwieg. Zu viele Dinge gingen ihr durch den Kopf. Schließlich stellte sie Thales die Frage: »Was haben Sie mit Guido gemacht, mit Vossius und Guthmann? Ich will eine Antwort!«
Da verfinsterte sich
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