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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Thales' Gesichtsausdruck, und er sagte: »An eines müßt Ihr Euch gewöhnen: In Leibethra stellt man keine Fragen, man gehorcht. In dieser Beziehung sind wir ein ganz normaler christlicher Orden. Aber nur in dieser Beziehung.«
    »Ich hatte ein Gespräch mit Professor Guthmann«, begann Anne.
    »Mit Bruder Menas«, verbesserte Thales und fügte hinzu: »Ich weiß.«
    »Er klang nicht sehr zuversichtlich.«
    »Sollte er das?«
    »Ich habe den Eindruck, Guthmann hat Angst.«
    »Menas ist ein Hasenfuß.«
    »Aber ein bedeutender Wissenschaftler.«
    »Wie man's nimmt.«
    »Und Sie brauchen seine Erfahrung.«
    »So ist es.«
    »Finden Sie nicht, daß es Zeit wird, mir die Wahrheit zu sagen?«
    »Ihr stellt schon wieder eine Frage«, entgegnete Thales. »Im übrigen kennt Ihr die Wahrheit. Ihr wißt, worum es geht: In einem Grab wurde ein koptisches Pergament gefunden, und in diesem Pergament ist ein fünftes Evangelium aufgezeichnet. Leider wurde die Bedeutung dieser Schrift erst viel später erkannt, als ihre Einzelteile bereits in alle Welt verstreut waren.« Thales ging zum Fenster und verschränkte die Hände auf dem Rücken. Den Blick nach draußen gewandt, fuhr er fort: »Dieses Papier ist geeignet, die Macht der katholischen Kirche zu brechen. Mit diesem Pergament werden wir die Kirche vernichten!«
    Thales' Stimme klang laut und dröhnend, wie sie sie noch nie vernommen hatte. »Ich bin auch kein Anhänger der Kirche«, bemerkte Anne, »aber aus Ihren Worten spricht abgrundtiefer Haß.«
    »Haß?« antwortete Thales. »Es ist mehr als Haß, es ist Verachtung. Der Mensch ist ein göttliches Wesen. Aber jene, die sich anmaßen, im Namen Gottes zu sprechen, verneinen alles Göttliche. Zweitausend Jahre Kirchengeschichte sind nichts weiter als zweitausend Jahre Demütigung, Ausbeutung und Kampf gegen den Fortschritt. Die Pfaffen haben Jahrhunderte riesige Dome gebaut, zur Ehre Gottes, wie sie sagten; in Wirklichkeit steckte die Idee dahinter, den Christenmenschen zu unterdrücken, ihm seine Kleinheit und Bedeutungslosigkeit vor Augen zu führen. Bedeutungslosigkeit hindert am Denken, und Denken ist Gift für die Kirche. Die Kirche wird von Befehlen am Leben erhalten. Ihre Lehre heißt schlicht befehlen und gehorchen. Und alles unter dem Motto: Glauben. Glauben ist leichter als Denken. Wer in Glaubenssachen den Verstand befragt, erhält unchristliche Antworten. Und das ist der Grund, warum die Kirche sich seit ihrem Bestehen dem Fortschritt und Wissen entgegenstemmt. Wissen ist das Ende des Glaubens. Alle Unsinnigkeiten, die die Kirche verbreitet, wurden bisher mit dem einen Zauberwort vom Tisch gewischt: Glauben. Wer immer gegen die Kirche auftrat, dem wurde bescheinigt, es fehle ihm an Glauben. Und gegen den Glauben gibt es keine Beweise, nur gegen den Unglauben.« Thales wandte sich Anne zu: »Dieses Pergament ist für die Kirche der Sprengstoff, der ihre Macht von einem Tag auf den anderen auslöscht, versteht Ihr?«
    Anne verstand, aber sie begriff nicht, warum gerade jenes eine Pergamentblatt, das sie besaß, von so großer Wichtigkeit sein sollte. Sie wagte aber auch nicht zu fragen, weil sie damit indirekt zugegeben hätte, im Besitz des Pergamentes zu sein. Welche Bedeutung verbarg sich hinter dem Namen Barabbas im Zusammenhang mit der Kirche?
    »Ich biete Euch eine Million!« hörte sie Thales sagen. »Überlegt es Euch gut. Früher oder später gelangen wir ohnehin in den Besitz des Blattes. Aber dann werdet Ihr nichts mehr davon haben.« Dann verließ Thales das Zimmer, und seine Schritte hallten in dem langen Gang.
    Wenn es stimmte, was Thales sagte, daß das Pergament Sprengstoff war, dann war dieses Dokument für die römische Kirche von noch weit höherem Wert als für die Orphiker. Anne erschrak, daß sie mit diesem Gedanken spielte.
13
    Z war wußte sie nun, worum es den Orphikern ging, über Guido hatte sie jedoch nichts erfahren. Aber da lagen seine Kleider, seine Hose und sein Jackett, und während sie ängstlich darauf starrte, als warte sie darauf, daß sie lebendig würden, kam ihr die Idee, mangels eigener Kleidungsstücke diese anzuziehen und die Oberstadt von Leibethra auf eigene Faust zu erkunden.
    Die Idee war so unverfroren und kam ihr so plötzlich, daß Anne daran Gefallen fand, ja, sie schmunzelte bei dem Gedanken, daß Guido solange nicht mehr auftauchen konnte, solange sie seine Kleider trug. Es gibt eine Theorie, Angst könne nur durch das Objekt der Angst besiegt werden, die Angst

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