Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
Vom Netzwerk:
denn schlimmer konnte es wohl auch nicht kommen.
    Sie hatten in ihrem schaukelnden Kasten noch keine fünfzig Meter zurückgelegt, als Anne heftig zu zittern begann. »Nur nicht nach unten«, sagte sie leise, und sie hielt die Augen geschlossen. Je weiter die Gondel sich von der Bergstation entfernte, desto heftiger schaukelte sie in alle Richtungen, seitwärts und auf und nieder. Ein Blick zurück auf die von Regenwänden verhangene Felsenstadt zeigte Kleiber die gewaltige Ausdehnung von Leibethra mit seinen Türmen und bizarren Aufbauten, die bei diesem Wetter eher der verlassenen Burg Frankensteins glichen als einem Kloster.
    Inzwischen hatte die Gondel jene Stelle erreicht, von der aus weder die Berg- noch die Talstation gesehen werden konnte, so daß Kleiber kaum feststellen konnte, ob sich ihr Fahrzeug überhaupt noch nach unten bewegte. Das heftige Schaukeln tat dazu ein übriges.
    »Wir stehen!« rief Anne, nachdem sie für einen Moment die Augen geöffnet hatte. »Sie haben abgeschaltet!«
    Kleiber preßte seine Hand vor Annes Mund. »Das sieht nur so aus! Bleib ruhig, in ein paar Minuten ist alles vorbei.« Dann legte er seinen Arm um ihre Schultern. Anne atmete hastig, sie verspürte Übelkeit. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, dachte sie nur: Hoffentlich hat diese Horrorfahrt bald ein Ende. Selbst wenn sie ihre Flucht entdeckt hatten und die Gondel zurückholten – Hauptsache festen Boden unter den Füßen!
    Was Adrian Kleiber betraf, so war er von Berufs wegen an außergewöhnliche Situationen gewöhnt, und Mut zum Risiko gehörte zu seinen hervorragenden Eigenschaften. Vor allem aber konnte er sich in dieser Situation Anne beweisen. Er hatte längst beobachtet, daß sich die Räder auf dem Drahtseil, an denen die Gondel hing, weiter talwärts drehten. Doch die Sicherheit, in der sich Kleiber wiegte, wurde jäh unterbrochen.
    Vor ihnen tauchte aus dem Nebel ein Trägermast auf, und ehe sie sich versahen, krachte die hölzerne Gondel gegen eine Eisenstrebe. Die dem Mast zugewandte Seitenwand, an der Kleiber saß, splitterte und schrammte Adrian gegen den rechten Oberschenkel, daß er laut aufschrie. Instinktiv hatte er Anne, als er das Unheil kommen sah, an sich gerissen, um so zu verhindern, daß sie aus der offenen Gondel geschleudert würde. Das hatte ihm möglicherweise das Leben gerettet, denn dabei hatte er sich von der Außenwand weg zur Seite gedreht. Sein Oberschenkel schmerzte, und als er die Hand vors Gesicht hielt, war sie rot gefärbt von Blut.
    »Du bist verletzt!« rief Anne hysterisch.
    »Nicht der Rede wert«, erwiderte Kleiber mit gespielter Ruhe. Er wußte nicht, wie die Verletzung an seinem Oberschenkel aussah; er spürte nur einen stechenden Schmerz. Als er Anne ansah, erkannte er, daß sie mit geschlossenen Augen weinte. Kleiber hielt es nicht für angebracht, in dieser Situation irgend etwas zu sagen. Er sehnte nur den Augenblick herbei, in dem sie die Talstation erreichten.
    Unwirklich wie eine wundersame Erscheinung tauchte vor ihnen auf einmal ein Holzschuppen auf, ein primitiver Bretterbau mit einer großen, dunklen Öffnung. Weder Anne noch Adrian hatte die geringste Ahnung, wie sie die Gondel zum Stehen bringen sollten.
    »Abspringen«, rief Adrian, »wir müssen abspringen«, und er riß die Plane beiseite; aber Anne stemmte sich mit weit aufgerissenem Mund gegen die Vorderwand, unfähig, sich zu erheben. Der Abstand zum Boden betrug nur noch zwei oder drei Meter, so daß es durchaus möglich gewesen wäre, aus dieser Höhe abzuspringen, aber Anne konnte nicht. Und während Adrian sie an den Schultern faßte und versuchte, sie über den Gondelrand zu zerren, während er immer wieder ausrief: »Komm, du schaffst es, du schaffst es bestimmt!«, tat das wankende Gefährt auf einmal einen mächtigen Ruck. Vom Tragseil her spürte man ein Zittern, dann war es still. Nur der Regen trommelte auf das Blechdach.
    Allmählich löste sich Annes Verkrampfung, und Adrian sah sich in dem Schuppen um, in dem sie gelandet waren. Der Raum ähnelte der Bergstation; auch hier standen Kisten und Säcke gestapelt und Kartons mit Vorräten. Ihre Flucht schien wirklich nicht bemerkt worden zu sein; jedenfalls gab es niemanden, der sie erwartete.
    Adrian und Anne blickten sich in die Augen. Sie lachten – ein befreiendes, glückliches Lachen nach Augenblicken größter Anspannung.
    »Noch haben wir es nicht geschafft«, gab Anne zu bedenken, während sie durch ein kleines Seitenfenster

Weitere Kostenlose Bücher