Das Fuenfte Evangelium
übermalt werden soll. Der Attentäter, der anschließend einen Selbstmordversuch unternahm, wurde in die Psychiatrie von St. Vincent de Paul eingeliefert.«
Drittes Kapitel
S T . V INCENT DE P AUL Psychiatrie
1
B is zu jenem Tag, an dem der Unfall ihres Mannes mit der fremden Frau geschah, hatte Anne von Seydlitz gelebt wie Tausende anderer Frauen, halbwegs glücklich und mit der Zufriedenheit einer versorgten Ehefrau. Daß ihre Ehe kinderlos geblieben war, hatte weder bei ihr noch bei Guido ein Trauma hinterlassen, und wenn man ihr die Frage gestellt hätte, ob sie Guido noch einmal heiraten würde, hätte sie ja gesagt, ohne zu zögern.
Aber seit diesem Unfall war alles anders. Anne wurde von dem Verdacht gequält, Guido könnte sie betrogen, ja, ein Doppelleben geführt haben und sie habe von all dem nichts gewußt. Unklar suchte sie nun nach Wegen, Licht in das Dunkel ihrer siebzehnjährigen Ehe zu bringen, aber ihre Empfindungen waren getrübt wie das aufgewühlte Wasser eines Tümpels, sie fühlte sich niedergeschmettert und von einer unerkennbaren Macht zu Boden gedrückt.
Vor allem die Ungewißheit war es, die sie peinigte, und das Unvermögen, sich aus all dem herauszuhalten. Natürlich hätte sie sagen können: Aus und vorbei, was kümmert mich die Vergangenheit, lebe das Heute. Aber sooft sie daran dachte, peinigte sie die Ahnung, sie könnte jenen dunklen Mächten, die sich in den vergangenen Wochen immer wieder bemerkbar gemacht hatten, ins offene Messer laufen.
Das Schlimme an dieser unruhigen und gereizten Gemütsverfassung war, daß Anne jede Objektivität verloren hatte und Zufälligkeiten und Merkwürdigkeiten, die mit dem Fall in Zusammenhang standen, nicht mehr richtig unterscheiden konnte; sie war auf dem besten Weg in eine verhängnisvolle Psychose, weil sich all ihre Gedanken im Kreis drehten und weil sie sich dabei von einer Lösung mehr und mehr entfernte. Vor allem wagte sie nicht, sich jemandem anzuvertrauen, nicht einmal ihrer besten Freundin, weil sie befürchten mußte, auf diese Weise mehr über Guidos Verhältnis zu erfahren.
Eine unerwartete Wendung nahm der Fall, als die Zeitungen in großer Aufmachung über das Säureattentat im Pariser Louvre berichteten und von dem Streit, den das Collier der Madonna verursachte, das auf dem Gemälde ans Tageslicht gekommen war. Besonderes Interesse galt dabei Marc Vossius, dem Säureattentäter, einem offenbar geistesgestörten deutschstämmigen Professor von der California-Universität in San Diego.
»Vossius? Vossius?« Anne wußte genau, sie hatte den Namen schon einmal gehört. Ja, am Tage vor seinem Verschwinden hatte Guthmann diesen Vossius erwähnt, allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang: Vossius habe sich ein halbes Leben mit Barabbas beschäftigt. In diesem Zusammenhang hatte Guthmann auch angedeutet, es gebe Leute, die Vossius für verrückt hielten.
Es lag nicht gerade auf der Hand, einen Bogen zu schlagen von dem Säureattentat auf das Gemälde von Leonardo da Vinci zu dem verschollenen Pergament, und doch gab es einen verblüffenden Zusammenhang: Barabbas! Guthmann hatte ›Barabbas‹ auf dem Pergament gelesen, und Vossius hatte das Phantom Barabbas erforscht.
Die letzten Wochen hatten sie gelehrt, daß Dinge, die ihr Begriffsvermögen überstiegen, gar nicht ungewöhnlich genug sein konnten, um zur Realität zu werden. Ein Professor, der sich auf ein Leonardo-Gemälde stürzt, war zweifellos ungewöhnlich genug; daß er sich außerdem mit der Erforschung des Namens Barabbas beschäftigt haben sollte, eines Namens, der gerade auf dem von ihr gesuchten Pergament auftauchte, kam dem Irrsinn ziemlich nahe, und diese Überlegung ließ bei Anne von Seydlitz den Entschluß reifen, sich mit dem verrückten Professor in Verbindung zu setzen.
2
E s traf sich, daß sie ein Anruf aus Paris erreichte, von einem Mann, der einmal in ihrem Leben eine gewisse Rolle gespielt hatte, wenngleich das lange zurücklag. Er hieß Adrian Kleiber, ein hochbegabter Fotograf und Bildjournalist bei ›Paris Match‹. Daß Adrian in Paris Karriere gemacht hatte, daran war Anne nicht ganz unschuldig. Adrian war Guidos bester Freund gewesen, bis sich die beiden über der Frage, wer die älteren Rechte an ihr, Anne, geltend machen könne, in die Haare gerieten.
Adrian und Guido hatten sich damals, vor siebzehn Jahren, allen Ernstes duellieren wollen, und das Duell hatte nur deshalb nicht stattgefunden, weil Anne gedroht hatte, sie würde im
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