Das Fuenfte Evangelium
verstehst du, ich habe furchtbare Angst, Angst vor dem Ungewissen, die grauenhafteste Art von Angst, die es gibt. Ich weiß nicht, ob du das begreifst!«
»Ich begreife es nicht«, entgegnete Kleiber ernst, »aber ich will versuchen, dich zu verstehen. Jetzt bist du erst einmal hier, und deine Probleme sind weit weg – irgendwo.«
»Nein, nein, nein!« rief Anne aufgeregt, und Adrian zog seine Hand erschrocken zurück. »Deshalb bin ich ja hier, weil ich hoffe, hier der Lösung einen Schritt näher zu kommen.«
Kleiber schwieg. Er verstand nicht, was Anne meinte, aber er spürte, daß die Frau etwas Furchtbares mit sich herumschleppte und daß es ungeschickt gewesen wäre, ihre Gefühl herunterzuspielen, als handelte es sich nur um Einbildung. Anne sah Kleiber an: Was ihn betraf, so kannte er sicher keine Angst. Sie sah in ihm einen Draufgänger, und mit dieser Einstellung war er gewiß gut gefahren, sogar bei heiklen Einsätzen auf den Kriegsschauplätzen in Korea und Vietnam. Anne hingegen wußte, daß keine Angst zu haben bisweilen an Dummheit grenzt, aber bisher hatte sie mit diesem Bewußtsein ganz gut gelebt.
»Ich habe dir längst nicht alles erzählt«, bemerkte Anne, während er auf der Porte de Bagnolet die Stadtautobahn verließ und in die Rue Belgrand einbog.
»Nicht alles?«
»Ich will hier in Paris einen deutschen Professor finden, er ist vielleicht der einzige, der mir in meiner Situation weiterhelfen kann.«
»Wie heißt er?«
»Marc Vossius.«
»Kenne ich nicht.«
»Noch schlimmer: Er sitzt im Irrenhaus, und du mußt mir helfen, ihn ausfindig zu machen.«
»Einen deutschen Professor in einem Pariser Irrenhaus?«
»Ich weiß, was du jetzt denkst«, wandte Anne ein, »aber der Mann ist für mich von großer Wichtigkeit, er ist im Augenblick meine einzige Hoffnung.«
Kleiber trat auf die Bremse seines Wagens und fuhr an den rechten Straßenrand. »Moment«, sagte er, »da ging eine Meldung durch alle Zeitungen von einem Professor, der im Louvre ein Säureattentat auf ein Gemälde von Leonardo da Vinci verübt hat …«
»Genau den meine ich«, erwiderte Anne.
»Aber er ist verrückt. Sie haben ihn eingesperrt, verstehst du?« Und dabei tippte er mit dem Zeigefinger an die Schläfe.
»Mag sein«, bemerkte Anne, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, »aber wenn ich bedenke, was in den letzten Wochen um mich herum geschehen ist, so ist seine Tat auch nicht unsinniger.«
Kleiber hielt das Lenkrad mit beiden Händen umklammert und starrte durch die Windschutzscheibe auf die Straße. Er schwieg, aber Anne konnte sich vorstellen, was in ihm vorging.
»Ich weiß«, sagte sie schließlich, »das alles ist nicht leicht zu begreifen, und ich könnte es dir nicht einmal übelnehmen, wenn du zu der Überzeugung gelangtest, daß ich irgendwie nicht ganz richtig im Kopf sei. Manchmal zweifle ich ja schon selbst an meinem Verstand.«
»Ach, Unsinn«, erwiderte Kleiber. »Ich sehe nur keinen Zusammenhang zwischen dem geistesgestörten Professor und deiner Geschichte, außer vielleicht« – er machte eine Pause – »daß die eine so aberwitzig klingt wie die andere. Ich meine, kein Mensch bei klarem Verstand geht auf ein Gemälde von unschätzbarem Wert mit Schwefelsäure los, ja ich möchte sogar sagen, man kann dem Professor nur wünschen, daß er für verrückt erklärt wird, sonst wird er im Hinblick auf Schadenersatzforderungen seines Lebens nicht mehr froh.«
Anne wiegte den Kopf hin und her. »Natürlich habe ich mir meine Gedanken gemacht. Eine Bewußtseinsstörung kann die unterschiedlichsten Ursachen haben, vor allem kann sie durch ganz verschiedene Einflüsse ausgelöst werden und wieder verschwinden. Ein Mensch, der so etwas tut wie dieser Vossius, muß also keineswegs den Verstand verloren haben. Er mag in bezug auf seine Tat verrückt sein, er könnte aber im übrigen völlig normal und eine Koryphäe auf wissenschaftlichem Gebiet sein.«
Ihre Erklärung klang durchaus glaubhaft, doch da gab es immer noch diesen Einwand: »Was hat Vossius mit deinem Fall zu tun?«
Anne lachte mit einer gewissen Bitterkeit. »Es gibt da wirklich nur ein Wort, das uns verbindet. Es ist ein Name, ein ziemlich seltener Name allerdings: Barabbas.«
»Barabbas? Nie gehört.«
»Eben. Dieser Name ist auf dem verschollenen Pergament erwähnt, das Guido bei sich hatte. Jedenfalls hat das ein bekannter Koptologe behauptet, den ich um Rat fragte. Und er hat auch gesagt, daß es einen Professor namens
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