Das Fuenfte Evangelium
er Bilder- und Allegorien gebraucht, die sich hinter der Handlung seines Buches verstecken, mit deren Hilfe er aber einer kleinen Schar Eingeweihter weltbewegende Erkenntnisse weitergeben wollte. Es wimmelt bei Dante von Pflanzen und Tieren, und man kann seinen Weg zur Hölle überhaupt nur verstehen, wenn man ihre Bedeutung kennt. So spricht Dante von Leopard, Löwe und Wölfin und meint damit die Laster der Wollust, Stolz und Habgier, und nennt er einen Adler, so darf man gewiß sein, daß es sich um den Apostel Johannes handelt. Zuerst war es nur eine Vermutung, aber je länger ich mich mit Leonardos Schriften beschäftigte, desto mehr Gemeinsamkeiten entdeckte ich in ihren Formulierungen, so daß ich schließlich auf die Idee kam, Leonardo so wie Dante zu lesen. Um auf den rätselhaften Hinweis in seinem ›Traktat über die Malerei‹ zurückzukommen: Bei dem göttlichen Gemälde, auf dem ein Geier von Rosen umgeben ist, handelt es sich in Wirklichkeit um die ›Madonna im Rosengarten‹, denn der Geier gehört zu den sogenannten ›Marialien‹. Wie viele Symbole ist auch dieses mythologischen Ursprungs. Origines sieht in diesem Vogel ein Geheimnis der unbefleckten Empfängnis, weil das Geierweibchen der Sage nach vom Ostwind befruchtet wird.«
Vossius' Worte blieben nicht ohne Eindruck auf den Psychiater, wenngleich sie nur eine Bestätigung seiner bereits gefaßten Diagnose zu sein schienen. »Einmal angenommen, Ihre Theorie stimmt«, sagte Le Vaux, »wie steht es um das Geheimnis, das unter Mennige verborgen liegt?«
»Um das zu ergründen, habe ich mich ja an den Louvre gewandt mit der Bitte, das Gemälde zu durchleuchten. Ich hatte da so eine Vermutung: Leonardo verwendete Mennige in seinen Farben, und er wäre nicht der erste und nicht der letzte Künstler, der unter einem allseits bekannten Gemälde eine Botschaft festgehalten hat, in diesem Fall jedoch eine Botschaft mit undenkbaren Folgen.«
Le Vaux sah seinen Patienten mit gespannter Erwartung an.
»Nun ja«, sagte Vossius, »Leonardo hat immerhin die Ansicht geäußert, dieses Geheimnis könnte eine Palme fällen, nein, er sagte die Palme!«
»Die Palme?«
»Das Symbol der Palme steht für Sieg, Frieden und Keuschheit. Märtyrer tragen oft Palmenzweige in den Händen. Die Palme aber ist das Sinnbild der Kirche.«
Da entstand eine lange Pause. Le Vaux dachte nach. »Sie wollen damit sagen, daß Leonardo da Vinci …«
»Ja«, unterbrach Vossius, »ich behaupte, Leonardo kannte ein furchtbares Geheimnis, das geeignet war, die Kirche zu Fall zu bringen wie den in den Himmel ragenden Stamm einer Palme.« Und während er sprach, leuchteten seine Augen.
»Ach, jetzt begreife ich!« rief Doktor Le Vaux plötzlich. »Mit Ihrem Säureattentat auf das Gemälde Leonardos wollten Sie den Beweis für Ihre Theorie erbringen. Ist es Ihnen denn gelungen?«
Vossius hob die Schultern. »Es ging alles so schnell. Ich mußte fliehen, bevor man mich entdeckte.«
Le Vaux nickte und sagte: »Sie wissen, Monsieur le Professeur, daß Sie nur eine einzige Chance haben, dem Gefängnis zu entgehen. Ich muß Ihnen in einem Gutachten Paranoia bescheinigen.«
»Paranoia?« Vossius holte Luft. »Aber daran glauben Sie doch selbst nicht!«
Le Vaux hob die buschigen Brauen: »Was würden Sie an meiner Stelle glauben?« Dann forderte er seinen Patienten auf, den rechten Arm frei zu machen.
Vossius gehorchte wie in Trance. Er konnte nicht begreifen, daß der Doktor ihm nicht glaubte. Der tastete mit weichen Fingern über seinen Unterarm bis er eine ihm genehme Vene fand, setzte die Nadel der Spritze an und stach zu. »Das wird Ihnen erst einmal guttun«, sagte er noch.
Einen Tag später war in der Zeitung ›Le Figaro‹ die folgende Meldung zu lesen:
»Säureattentat auf Leonardo-Madonna. Paris (AFP). – Ein deutscher Professor hat in einem Anfall geistiger Umnachtung das Gemälde ›Madonna im Rosengarten‹ von Leonardo da Vinci mit Schwefelsäure übergossen. Der Anschlag im Louvre, bei dem das Gemälde erheblich beschädigt wurde, förderte eine erstaunliche Entdeckung zutage. Danach hatte der Künstler offensichtlich die Madonna ursprünglich mit einer Halskette aus acht verschiedenen Edelsteinen abgebildet, das Schmuckstück wurde jedoch später aus unbekannten Gründen übermalt. Unter den Restauratoren des Louvre ist nun ein Streit entbrannt, ob die Madonna in den ursprünglichen Zustand mit Halskette zurückversetzt oder ob das Schmuckstück wieder
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