Das Fuenfte Evangelium
Bewußtsein, ich war so klar wie jetzt, während ich zu Ihnen spreche. Die Ursachen liegen schon viele Jahre zurück und sind in meiner Arbeit als Professor für vergleichende Literaturwissenschaft zu suchen.«
Lieber Himmel. Le Vaux drehte sich um und sah Vossius an. Er befürchtete nun eine Vorlesung im Fachgebiet des Patienten, jedenfalls hätte das dem typischen Erscheinungsbild von Schizophrenie entsprochen, jener Krankheit, die auf unerklärliche Weise Menschen bevorzugt, denen überdurchschnittliche Intelligenz zur Last wird.
Vossius schien die Gedanken des Doktors zu erraten, durchaus ungewöhnlich für einen Patienten, denn gemeinhin ist es eher so, daß der Psychiater die Gedanken des Patienten zu kennen glaubt. Jedenfalls sagte Vossius zum Erstaunen Le Vaux': »Ich kann mir denken, daß Sie jetzt überlegen, ob Sie in mir einen Fall von einfacher Paranoia oder paranoider Schizophrenie sehen sollen, und es ist schwer zu beweisen, daß weder die eine noch die andere Diagnose zutrifft. Hören Sie, Doktor, ich bin so normal wie Sie oder jeder andere.«
Le Vaux hatte inzwischen wieder seine typische Haltung vor dem Fenster eingenommen, er starrte nach draußen, obwohl die Dämmerung bereits hereingebrochen war und es längst nichts mehr zu sehen gab. Immerhin schwieg er – für Vossius ein Zeichen dafür, daß er ihm zuhörte.
»Ich habe vor acht Jahren zum ersten Mal beim Musée de Louvre den Antrag gestellt, das Gemälde ›Madonna im Rosengarten‹ einer chemotechnischen und röntgenologischen Untersuchung zu unterziehen. Aber man hat mich damals wohl genauso für verrückt erklärt wie heute, nur mit dem einen Unterschied – man ließ mich weiter frei herumlaufen. Die Antwort, die man mir damals zukommen ließ, lautete: Man habe meine Theorie mit Interesse zur Kenntnis genommen, sehe sich jedoch außerstande, meiner Anregung nachzukommen. Das kostbare Kunstwerk könne dabei Schaden nehmen. Das war natürlich Unsinn; denn wie allgemein bekannt ist, werden überall in der Welt, und nicht zuletzt im Louvre, Kunstwerke naturwissenschaftlichen Untersuchungen unterzogen. Auf diese Weise wurden Rembrandts entlarvt, die keine sind, bei anderen Werken konnte die Urheberschaft eines Künstlers nachgewiesen werden, keine ungewöhnliche Prozedur also. Nein, der Grund für die ablehnende Haltung des Louvre lag darin, daß ein Literaturprofessor eine epochale Entdeckung gemacht haben sollte, eine Entdeckung, die eigentlich einem Kunsthistoriker zukam. Ich glaube, die Rivalität unter Professoren der Künste ist nicht anders als jene unter Medizinern.«
Eine treffende Bemerkung, der Le Vaux insgeheim nur zustimmen konnte, und Vossius hatte damit, ohne es zu ahnen, eine gewisse Sympathie errungen. Der Tonfall war auf einmal ein ganz anderer, als Le Vaux die Frage stellte: »Sagen Sie, Monsieur le Professeur, welchen Sinn sollte die Untersuchung haben? Ich meine, was haben Sie sich davon versprochen?«
Vossius holte tief Luft. Er wußte, daß das, was er jetzt sagen würde, entscheidend war für sein weiteres Schicksal. Wenn er überhaupt eine Chance haben würde, dann mußte er jetzt die ganze Wahrheit sagen. Die Vorstellung, Jahre oder Monate, aber auch nur ein paar Wochen hinter diesen Mauern verbringen zu müssen, unter beklagenswerten Menschen, die neben ihrem eigenen Bewußtsein herliefen, diese Erwartung ließ ihn alle Bedenken vergessen, er mußte sein Wissen preisgeben.
6
L eonardo«, begann Vossius weitausholend, »war eines der größten Genies, die je gelebt haben. Viele hielten ihn schon zu Lebzeiten für verrückt, weil er sich mit Dingen beschäftigte, die seinen Zeitgenossen unverständlich erschienen. Er sezierte Leichen, um die Anatomie des Menschen zu studieren, er konstruierte Flugzeuge, Schaufelbagger, Hochstraßen und Unterseeboote, die erst viele Jahrhunderte später Realität wurden. Er war Erfinder, Architekt, Maler und Forscher und verfügte über ein Wissen, das nur wenigen im Laufe der Jahrtausende zuteil wurde. Er wußte auch Dinge, die er eigentlich gar nicht wissen durfte, was wiederum nur wenige Menschen wußten.«
»Ich verstehe nicht«, unterbrach Le Vaux. Vossius schien das Interesse des Psychiaters geweckt zu haben.
»Schauen Sie«, erklärte Vossius, »es gibt auf dieser Welt weise Menschen, nicht allzu viele, aber doch eine respektable Anzahl. Erleuchtete jedoch – ein scheußliches Wort, aber ich kenne kein besseres – gibt es höchstens ein Dutzend. Das sind Menschen,
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