Das Fuenfte Evangelium
die alle Zusammenhänge begreifen, die wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Leonardo da Vinci war einer von ihnen, aber die wenigstens wußten davon. Die meisten hielten ihn vielleicht für einen klugen Kopf, mehr nicht. Einer, der wußte, daß sich hinter Leonardo ein Genie verbarg, war Raffael. Er bewunderte Leonardo wegen seiner Malkunst, aber er betete ihn an wegen seiner Erleuchtung. Raffael war nicht eingeweiht in das Wissen Leonardos, aber er wußte davon. Darum malte Raffael in seinem Gemälde ›Die Schule von Athen‹ den Philosophen Platon, einen der Gescheitesten, die je unseren Planeten bewohnt haben, mit dem Kopf Leonardo da Vincis. Manche sahen darin ein Kompliment, andere ignorierten die Erscheinung, weil sie keine Erklärung fanden. Die Wahrheit kennen nur wenige.«
»Und hat Leonardo je über dieses Wissen geredet?«
»Nicht wie ein Wanderprediger oder Marktschreier. Er hat in seinen schriftlichen Aufzeichnungen Andeutungen hinterlassen, Rätsel für die Literatur- wie die Kunstkritik. Er gebrauchte seltsame Vergleiche und schrieb, der Körper der Erde habe die gleiche Natur wie ein Fisch, er atme Wasser statt Luft und sei von Adern durchzogen, die wie das Blut im menschlichen Körper unter der Oberfläche verliefen, und sie beinhalteten den Lebenssaft für den Planeten. Reichlich naiv und unverständlich für jemanden, der sich mit der Fliegerei beschäftigte.«
Le Vaux zog seinen Stuhl näher an Vossius heran und setzte sich ihm gegenüber, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Der Mann, vor allem seine Rede, begann ihn zu interessieren. Paranoiker sind zu den seltsamsten Gedanken fähig, und diese Gedanken zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß sie absurd, in der Konsequenz aber logisch, bisweilen sogar streng wissenschaftlich sind. Le Vaux beobachtete jede Bewegung seines Patienten, aber weder die Bewegung seiner Hände noch die Motorik seiner Augen ließ irgendwelche Anomalien erkennen, die Aufschluß über den geistigen Zustand dieses Mannes gegeben hätten.
»Der große Leonardo«, nahm Vossius seine Rede wieder auf, »hat seine Malerei für weniger bedeutsam erachtet als seine Wissenschaft. Jedenfalls verlor er in seinem Testament kein Wort über seine Gemälde, aber seine Manuskripte und Bücher zählte er einzeln auf, so als ob sie die wichtigste Sache seines Lebens gewesen wären. Eines dieser Werke trägt den Titel Trattato della Pittura und enthält neben aufschlußreichen Einsichten in die Kunst rätselhafte Andeutungen über Gott und Welt.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel den Hinweis auf ein göttliches Gemälde nach der Natur, ›wo ein Geier von Rosen umgeben ist, mit einem Geheimnis im Herzen, verborgen unter reichlich Mennige und geeignet, die Palme zu fällen‹. Generationen von Kunsthistorikern haben an dieser Beschreibung herumgerätselt, und sie kamen zu dem Ergebnis, das Bild sei verschollen.«
»Und? Lassen Sie mich raten, Monsieur, Sie haben es wiedergefunden! Richtig?«
»Richtig«, erwiderte Vossius wie selbstverständlich.
»Und wo, wenn ich fragen darf?«
Vossius lachte. »Im Louvre, Doktor.« Seine Stimme klang nun ganz aufgeregt. »Es sah nur ganz anders aus, als es sich die Herren vorgestellt hatten.«
»Und wie?«
»Bei dem angeblich verschollenen Gemälde des Leonardo da Vinci handelte es sich um die ›Madonna im Rosengarten‹.«
»Interessant«, bemerkte Doktor Le Vaux. Keine Frage, er hatte es mit einem typischen Fall von wahnhafter Paranoia zu tun. Schade um die Intelligenz dieses Mannes. Le Vaux wollte eigentlich gar nicht mehr weiterfragen, und er hörte auch nur noch mit halber Aufmerksamkeit zu, als Vossius seine Erklärungen fortsetzte.
»Mir schien von Anfang an klar, daß dieses Problem nicht von Kunsthistorikern gelöst werden konnte, sondern nur von Literaturwissenschaftlern. Den Weg wies mir Dante Alighieri.«
O Gott! Le Vaux gab sich sichtlich Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen. Er war darin sozusagen von Berufs wegen trainiert, aber dieser Vossius verlangte ihm doch etwas viel ab.
»Ich will mich kurz fassen«, kündigte Vossius an, dem die krampfhafte Haltung des Psychiaters natürlich nicht entgehen konnte, »aber Sie müssen sich vorstellen, daß sich all das über Jahre erstreckte. Ich habe eine in Fachkreisen durchaus anerkannte Arbeit über die Pflanzen- und Tiersymbolik in Dantes ›Göttlicher Komödie‹ verfaßt. Dabei habe ich entdeckt, daß Dante genau wie Leonardo bisweilen in Rätseln spricht, daß
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