Das Fuenfte Evangelium
Vossius gibt, der sich mit der Erforschung dieser offensichtlich historischen Figur beschäftigt.«
»Jetzt verstehe ich!« rief Kleiber begeistert. »Was steht sonst noch in dem alten Pergament?«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Anne. »Am Tag, nachdem ich bei ihm war, ist der Koptologe spurlos verschwunden, mitsamt der Kopie des Pergaments.«
Kleiber schüttelte den Kopf. »Das ist irrsinnig, irrsinnig ist das«, sagte er. »Wir müssen diesen Vossius finden, und wir werden ihn finden. Ich habe schon ganz andere Leute ausfindig gemacht. Kein Problem!«
3
A drian Kleiber lebte in einem geräumigen Appartement mit großen, schrägen Fenstern an der Avenue de Verdun zwischen Canal Saint Martin und Gare de l'Este hoch über den Dächern von Paris. Das wuchtige Gebäude strahlte den typischen Charme Pariser Häuser aus der Zeit vor der Jahrhundertwende aus mit einer Haustür mit roten und blauen Ziergläsern, einem messingbeschlagenen, hölzernen Fahrstuhl mit klappernden Falttüren und einem großen, ein wenig schäbigen Treppenhaus, breit genug für den Aufmarsch einer Armee.
Weißgestrichene, zweiflügelige Türen, die nie geschlossen wurden, trennten die ineinander übergehenden Räume der Wohnung voneinander, und Kunstgegenstände und Mobiliar, in der Hauptsache Jugendstil und islamische Kunst, hatte Adrian in Antiquitätengeschäften und auf Pariser Flohmärkten zusammengekauft, wobei der ›bric à brac‹ zwischen der Porte de Clignancourt und der Porte de Saint-Quen seine größte Zuneigung fand. Manches Stück, registrierte Anne von Seydlitz mit dem Blick des Kenners, war heute ein Vermögen wert.
Das kleinste der vier Zimmer, dessen einzige Fensternische sich zu einem kleinen, runden Balkon zum Hinterhof hin öffnete, wies Adrian Kleiber seiner Besucherin zu mit dem Wunsch, sie möge sich wie zu Hause fühlen. Ein weißes Sofa und zwei alte, dunkle Kommoden stellten die einzige Einrichtung dar; viel mehr hätte in dem kleinen Raum gar nicht Platz gefunden. Im Vergleich zur Größe und Einsamkeit ihres eigenen Hauses fühlte Anne sich hier heimisch, vor allem fühlte sie sich von Adrian beschützt.
Adrian hatte inzwischen an der Geschichte als Journalist Gefallen gefunden, und er verfolgte das Ziel mit jener Neugierde und Abenteuerlust, die diesen Leuten zu eigen ist. Es bedurfte nur einiger Anrufe, wobei Anne feststellte, daß Kleiber überall seine Freunde oder Kontaktleute hatte, um den Aufenthaltsort des internierten Professors ausfindig zu machen, die Psychiatrie in St. Vincent de Paul an der Avenue Denfert-Rochereau.
Bei einem Abendessen im ›Chez Margot‹, einem kleinen Lokal am Canal mit kaum mehr als fünf Tischen und der Atmosphäre einer Wohnstube (die obendrein dadurch zustande kam, daß Margot, eine gemütliche Endvierzigerin mit grell geschminktem Gesicht, sowohl kochte als auch servierte – was natürlich eine gewisse Zeit in Anspruch nahm), legten Kleiber und Anne von Seydlitz die Strategie fest, wie sie an Vossius herankommen wollten.
Es schien nicht ratsam, den Grund ihrer Recherchen zu nennen, die Wahrheit ist in solchen Situationen nur hinderlich. Also beschlossen sie, Anne als Nichte und einzige Verwandte des Professors anzugeben, um sich so bei Vossius einzuschleichen.
Kleiber trug eine Kleinbildkamera unter dem Mantel versteckt, und er hatte sich mit dem Hinweis, ohne Kamera fühle er sich nackt wie ein Kaiser ohne Kleider, auch nicht von Annes Einwänden abbringen lassen, als sie den Seiteneingang von St. Vincent de Paul mit dem verwitterten Schild ›Psychiatrie‹ betraten. Adrian, der beinahe akzentfrei französisch sprach, versuchte dem weißgekleideten Pförtner hinter einem Schiebefenster den Grund ihres Besuches zu verdeutlichen, was bei diesem jedoch auf deutliches Mißtrauen stieß. Jedenfalls ließ er sich ziemlich von oben herab Annes Ausweis zeigen, um sich mit der Akribie eines Legasthenikers in das deutsche Dokument zu vertiefen und Annes Namen zu notieren. Endlich griff er zu dem elfenbeinfarbigen Telefon, wählte eine Nummer und redete, während er Anne und Adrian mit den Augen fixierte, von Vossius und von seinen deutschen Angehörigen. Dann wies er ihnen in dem Vorraum eine hölzerne weißgestrichene Bank zu.
Sie warteten etwa zehn Minuten – aber Anne kam es wie eine Ewigkeit vor –, als der Pförtner die Scheibe seines Schalters zur Seite schob, die Wartenden heranwinkte und, an Kleiber gewandt, erklärte, der Patient habe sich dahingehend
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