Das Fuenfte Evangelium
überhaupt mithalten kann. Wen interessieren schon alte koptische Texte.«
»Täuscht Euch nicht«, wandte Helena ein, »jeder, den Ihr hier am Tisch sitzen seht, versteht von dem, was der andere macht, praktisch nichts; aber dem anderen wiederum ist seine Arbeit ein Buch mit sieben Siegeln. Zusammengenommen sind wir alle jedoch das universelle Gehirn des Menschen.«
Helena zeigte mit dem Finger nach vorne, wo der lange Tisch in den Querbalken des großen T überging. »Seht die zwei in der vorderen Reihe. Der Rechte ist wie ich Heraklit zugeordnet. Er heißt Timon, sein bürgerlicher Name war Dr. Marc Warrenton, er stammt aus Oxford und ist der weltbeste Experte für Kryptonäsie.«
»Kryptonäsie?«
»Kryptonäsie ist die Fähigkeit, sich vergessener Informationen zu erinnern. Diese Fähigkeit geht bei manchen Menschen unter Trance oder Hypnose so weit, daß sie Informationen aus vergangenen Leben hervorbringen, was als ein Beweis für Reinkarnation angesehen werden kann. Timon hat mit Hilfe eines Engländers Tatsachen aus dem Alten Ägypten aufgedeckt, die dann durch archäologische Ausgrabungen bestätigt wurden. Ihm gegenüber der junge Mann heißt Straton, als Dr. Dr. Claude Vail Frankreichs jüngster Institutsleiter. Er kam als Wunderkind auf die Welt, machte mit zwölf sein Abitur, mit vierzehn schrieb er eine medizinische Doktorarbeit, mit achtzehn leitete er das Wissenschaftliche Forschungszentrum in Toulouse und beschäftigte sich in der Hauptsache mit dem Tiefgefrieren von Samenzellen mit flüssigem Stickstoff. Er kam hierher, weil er sich zum Schluß mehr mit ethischen als mit wissenschaftlichen Problemen herumschlagen mußte. Heute prahlt er, hätte es seine Technik schon im 1. Jahrhundert gegeben, so könnte er jederzeit einen Sohn Senecas zeugen.«
Fasziniert hörte Guthmann den Worten Helenas zu, und er begriff allmählich, daß dieses Leibethra ein Hort von Süchtigen war, von Wissenssüchtigen, die nur eine Sünde kannten, die Dummheit. Ob ihm diese Stätte anbetungswürdig oder verachtenswert erschien, vermochte er zu diesem Zeitpunkt nicht zu sagen, dazu war er auch viel zu bewegt von dem Geschehen um ihn herum und von Helenas Worten.
»Ich kann mir vorstellen«, begann Helena von neuem, »Euch quälen viele Fragen.«
Guthmann griff zu seinem Glas, nahm einen tiefen Schluck von dem Rotwein und nickte zustimmend: »Sicher. Zum Beispiel würde mich interessieren – ich meine, Leibethra kostet viel Geld, wer steht dahinter, wer finanziert das alles?« Dabei sah er Helena von der Seite an, als ob er befürchtete, zu weit gegangen zu sein mit seiner Frage.
Die aber lachte nur: »Ihr hattet wohl nichts einzubringen an Vermögen?«
»Ich fürchte, nein«, erwiderte Guthmann und legte die Hände auf die Brust. »Ein Professor für Koptologie ist nicht gerade ein Krösus.«
»Ist auch nicht notwendig! Aussteiger, müßt Ihr wissen, nagen selten am Hungertuch. Sie steigen aus, weil sie satt sind. Orpheus ist reich, steinreich sogar, Philon entstammt einer südamerikanischen Großgrundbesitzerfamilie, Hegesias gehört die Hälfte eines der größten Leihwagenunternehmen der Welt, Hermes ist an Ölquellen in Nigeria beteiligt, und ein jeder hat sein Vermögen hier mit eingebracht. Nein, über Geld wird in Leibethra nie gesprochen.«
Die Stimmung in dem Saal wurde immer lauter. Man wechselte die Plätze und stand diskutierend in kleinen Gruppen beisammen. Von irgendwoher drang Mozart-Musik. Ein Paradies für Philosophen.
»Ihr wolltet etwas sagen?«
Guthmann schmunzelte. Offensichtlich war er zu keiner Regung fähig, die die Frau nicht aus seinem Gesicht ablas. »Ich dachte nur«, entgegnete er entschuldigend, »Leibethra ist ein Paradies für Philosophen.«
Helena schwieg, aber aus ihrem Schweigen erkannte Guthmann, er mußte irgend etwas Falsches gesagt haben, etwas, das nicht ihre Zustimmung fand. Helena griff nach ihrem Glas und trank es in einem Zug leer, so als wollte sie sich Mut antrinken. Schließlich erhob sie sich und ging, ohne ein Wort zu sagen, quer durch den Saal zu einer der Fensternischen in dem dicken Gemäuer, die so groß waren, daß sie eine hölzerne Sitzbank aufnahmen. Sie starrte zum Fenster hinaus in die Nacht.
Ratlos hatte Guthmann den Vorgang beobachtet; er wußte nicht, wie ihm geschah, und deshalb folgte er seiner Gesprächspartnerin zu dem Fenster und meinte entschuldigend: »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, nein«, fiel ihm Helena ins Wort, »Leibethra
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