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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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schmale schwarze Brille tat ein übriges. Helena trug ein enges dunkles Kostüm und schwarze Schuhe mit hohen Absätzen, und ihre Erscheinung schien ihm durchaus geeignet, erotische Signale auszusenden. Auf Guthmann verfehlten sie jedenfalls ihre Wirkung nicht.
    »Entschuldigen Sie« – er verbesserte sich – »entschuldigt, ich bin etwas verwirrt, ich habe Euch nicht erwartet.«
    Als habe sie die Worte nicht gehört, sagte Helena kühl: »Kommt, es ist Zeit. Ihr müßt wissen, daß Nachtmahl ist in Leibethra eine Institution. Man darf nicht zu spät kommen. Disziplin steht bei uns an erster Stelle.«
    Auf den Gängen, die vorher noch menschenleer gewesen waren, herrschte auf einmal Leben. Man plauderte im Gehen wie in einem Foyer, und dieser Umstand nahm dem Gebäude, das für Guthmann voller Geheimnisse steckte, viel von seiner Magie.
    »Ihr habt noch keinen Namen?« erkundigte sich Helena, während sie die steile Treppe nach unten stiegen. Guthmann verneinte.
    Unten angelangt, wandten sie sich nach rechts, durchquerten den halbmondförmigen Vorraum mit den Aufzügen zur Rechten und suchten wie alle anderen den Weg durch den langen Korridor auf der gegenüberliegenden Seite. Immer mehr dunkel gekleidete Menschen, darunter auch Frauen, fanden sich ein und strebten einer Halle mit hohem Gebälk zu. Der steinerne Boden war mit Teppichen ausgelegt. Ein Tisch in Form eines großen T nahm beinahe den ganzen Raum ein.
    »Es gibt keine Sitzordnung«, bemerkte Helena, »außer an dem Tisch dort vorne.« Als schließlich alle Anwesenden an der langen Tafel Platz gefunden hatten – es mögen um die sechzig gewesen sein –, erschienen durch eine hintere Tür nahe dem Tisch, der den Querbalken des T bildete, vier Männer in Begleitung einer ungewöhnlichen Gestalt, bei der man trotz ihres dunklen Zweireihers nicht ohne weiteres erkennen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.
    »Das ist Orpheus«, sagte Helena mit einer Wendung des Kopfes, und als sie Guthmanns fragenden Blick erkannte, fügte sie erklärend hinzu, so als beschreibe sie etwas ganz und gar Selbstverständliches: »Orpheus ist ein Zwitter, müßt Ihr wissen; ob mehr Mann oder mehr Frau, ist dabei unerheblich. Ich selbst habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, aber Tatsache ist, wir alle haben ihn zum Orpheus gewählt, weil er der Klügste von uns ist, ein Weiser, der die Geheimnisse des Lebens kennt. Wenn es einen Menschen gibt, der Flüsse zum Stillstand, den Schnee zum Schmelzen, Steine zum Reden und Bäume zum Wandeln bringt, dann ist er es. Orpheus ist ein Genie – was sage ich, das Genie schlechthin!«
    Von Thales hatte Guthmann erfahren, daß der Orden von einem amerikanischen Professor geleitet wurde, einem Universalgenie von der Berkeley University, der sich nicht nur durch außergewöhnliche geistige Fähigkeiten, sondern auch durch ein ererbtes Aktienkapital auszeichnete, das, so erzählte man sich, umfangreich genug sei, die Börsen von New York und Paris durcheinanderzuwirbeln. Und beides hatte er mit nach Leibethra gebracht. Das Motiv des Aussteigers ähnelte Guthmanns Motiven: Widerwillen gegen die herrschende Wissenschaftsmafia. Aber diesen Orpheus hatte er sich so ganz anders vorgestellt.
    Verunsichert neigte Guthmann sich zu Helena, die an seiner Seite Platz genommen hatte: »Ich habe Euch doch richtig verstanden, das ist Professor …«
    »Arthur Seward«, fiel ihm Helena ins Wort, »Berkeley, California. Aber wir reden nicht über unsere Vergangenheit, es sei denn aus freien Stücken. Das ist mit ein Grund, warum ein jeder einen Ordensnamen trägt.«
    »Ich verstehe«, sagte Guthmann leise, und jetzt, nachdem Orpheus mit seinen vier Begleitern Platz genommen hatte, erkannte er Thales an Orpheus' Seite zur Rechten.
    Weißgekleidete Ober trugen eine aus bunten Gemüsen zusammengesetzte Vorspeise auf, was Helena zu der Bemerkung veranlaßte: »Solltet Ihr bisher Fleisch gegessen haben, vergeßt es. Wir sind alle Vegetarier.«
    »Soll mir recht sein«, brummte Guthmann. Die Vorspeise schmeckte ausgezeichnet. »Was mich noch interessieren würde: Thales übt hier wohl eine hohe Funktion aus. Das habe ich nicht gewußt, jedenfalls hat er mir gegenüber keine Andeutung gemacht.«
    »O ja«, erwiderte Helena, und im Tonfall ihrer Stimme lag eine gewisse Bewunderung, »Thales ist in unserem Mikrokosmos das alles bewegende Wasser.«
    »Wie soll ich das verstehen?«
    »Die Fünf an der Vorderseite des Tisches bilden

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