Das Fuenfte Evangelium
Eingeweihten geläufig ist. Nachdem Orpheus sich über die Bedeutung apokrypher koptischer Texte im Hinblick auf die christlichen Religionen ausgelassen und dabei verblüffende Sachkenntnis bewiesen hatte, entließ er ihn mit einer huldvollen Handbewegung, und Thales kündigte an, er werde den neuen Eleaten am morgigen Tage in seine Aufgaben einweihen.
Für die übrigen, die Guthmann bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht wahrgenommen hatten, schien das Gespräch mit Orpheus die Aufnahmeprüfung in die Gemeinschaft der Orphiker gewesen zu sein, denn einer nach dem anderen trat nun auf Menas zu, nannte seinen Ordensnamen und schüttelte ihm die Hand. Die Zeremonie, und um eine solche handelte es sich offensichtlich, vermittelte jedoch nicht den geringsten Anschein von Herzlichkeit; die meisten empfanden den Pflichtgang eher als lästig, und diese Haltung blieb Menas nicht verborgen. Helena hatte anscheinend nicht übertrieben.
Du bist jetzt ein anderer, und alles, was hinter dir liegt, ist von jetzt an ohne Bedeutung. Orpheus' Worte kamen ihm in den Sinn, als Menas hundemüde die steile Treppe nach oben stieg zu seinem Zimmer. So wie er war, ließ er sich auf sein Bett fallen, da klopfte es an die Tür.
»Ja?«
Es war Helena. »Wollt Ihr mit mir schlafen?« sagte sie und zog die Tür hinter sich zu.
Fünftes Kapitel
D AS P ERGAMENT Spurensuche
1
W as Anne von Seydlitz am meisten beunruhigte in ihrer Situation, sie wußte nicht, welche Rolle sie eigentlich spielte. War es eine unbedeutende Nebenrolle in dieser Tragödie, die sich auf Grund ihrer Neugierde so ergeben hatte, oder hatte ihr ein unerbittliches Schicksal die Hauptrolle zugedacht? Anne konnte nicht anders, sie mußte spielen.
In Augenblicken wie jenem, als sie den toten Rauschenbach gefunden hatte oder als sie von Vossius' Ermordung erfuhr, dachte Anne: Du hast nur ein Leben, warum riskierst du es? In solchen Augenblicken stellte sie sich aber auch die Frage nach der Alternative. Wie sollte sie sich verhalten? So tun, als sei nichts geschehen? Weglaufen?
Anne fühlte sich besser, wenn sie dem Schicksal entgegentrat. Vor allem glaubte sie an einem Punkt angelangt zu sein, an dem sie überhaupt nicht mehr zurückweichen konnte.
Adrian Kleiber war ihr in diesen Tagen zu einer unentbehrlichen Stütze geworden. Er war der Mann, an den sie sich anlehnen konnte, wenn ihre Gefühle in blinde, unsinnige Panik auszuarten drohten, als wäre der Teufel hinter ihr her. Dann fühlte sie sich ruhig und gelassen und zurückversetzt in die Zeit, als Guido und Adrian noch Freunde waren.
Aber irgend etwas in ihr sträubte sich ständig gegen diese Vergangenheit, und vielleicht war dies auch der Grund, warum Anne auf eine für ihn unerklärliche Weise den Jugendfreund zurückwies, sobald sich dieser ihr näherte. Anne versuchte das mit der unergiebigen Floskel zu erklären, alles brauche eben seine Zeit, und weil Kleiber an Anne gelegen war, fand er sich damit ab.
Das war auch der Grund, warum Adrian Kleiber sich bei der gemeinsamen Rückkehr nach München einverstanden erklärte, ein Hotelzimmer zu nehmen und nicht einen der komfortablen Räume in ihrem Haus zu bewohnen, was sich eigentlich angeboten hätte. Das ›Hilton‹ lag zehn Autominuten von ihrer Villa entfernt, wurde in der Hauptsache von Geschäftsleuten frequentiert und sollte ihnen am folgenden Tag auf eine Weise, die niemand zu hoffen wagte, den wohl wichtigsten Hinweis in die Hände spielen.
Der Grund für ihre überstürzte Abreise aus Paris war der Hinweis auf Donat auf einer der Kopien des Pergamentes gewesen, und Anne vertrat die Ansicht, es sei besser, den Mann am folgenden Tag ohne Anmeldung aufzusuchen und ihn mit der Fotografie zu konfrontieren; dann würde er wohl erklären müssen, wie sein verstümmelter Zeigefinger auf das Bild gelangt sei.
Es roch nach Winter, und durch den Münchner Osten wehte ein eisiger Wind, als Anne von Seydlitz und Adrian Kleiber gegen Mittag vor dem Haus Hohenzollern-Ring 17 ankamen. Im Garten war ein Gärtner damit beschäftigt, das Laub dreier Ahornbäume zusammenzurechen. Er musterte die Besucher und kam, als er sah, daß sie Einlaß begehrten, an den Zaun.
»Tag!« sagte er und schob seine abgewetzte Stoffmütze in den Nacken.
»Wir möchten zu Herrn Donat!« rief Anne über den Zaun.
»Zu Donat, so«, sagte der Gärtner und stützte sich mit den Armen auf das graugestrichene Eisentor, »da kommen Sie wohl ein paar Tage zu spät.«
»Zu spät? Was
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