Das Fuenfte Evangelium
die Hand in seiner Hand wie einen Eisblock; er mußte Anne beinahe hinter sich herziehen. Als sie vor der Tür zur Bibliothek waren, streckte Kleiber die Hand aus und gab der Tür einen Stoß. Anne preßte zitternd Adrians Hand.
Als die Tür den Blick in die Bibliothek freigab, stieß Anne einen Schrei aus. Der Stuhl war leer.
»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte Anne, nachdem sie längere Zeit wortlos nebeneinandergestanden waren.
»Unsinn«, erwiderte Kleiber.
Anne ließ sich nicht beirren: »Du denkst, ich bin mit den Nerven schon so herunter, daß ich Gespenster sehe.«
Kleiber wiederholte: »Unsinn«, und versuchte Anne in den Arm zu nehmen. Es blieb bei dem Versuch, denn Anne riß sich los und stürmte von einem Raum zum anderen. Schließlich hetzte sie die Treppe nach oben, und Kleiber, der im Parterre zurückgeblieben war, hörte wildes Türenschlagen. Als sie die Treppe herunterkam, war Anne deutlich ruhiger.
»Nichts«, sagte sie, »nichts.«
In der Bibliothek stand Adrian in den Anblick der Scherben des Cognacglases versunken.
»Ich habe das Glas nicht zerbrochen«, beteuerte Anne, die Kleiber beobachtete. »Ich bin vom Klirren des Glases hochgeschreckt, sonst wäre ich doch gar nicht nach unten gegangen.«
Adrian nickte, ohne aufzublicken. »Das würde bedeuten …«, sagte er nachdenkend und machte eine lange Pause.
»So sag schon endlich, was du denkst!«
»… daß das Glas absichtlich auf den Boden geworfen wurde, um deine Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Es konnte aber auch im Dunkeln zu Bruch gegangen sein.«
»Das wäre schon möglich«, entgegnete Adrian, »aber in diesem Fall hätte der Verursacher doch die Flucht ergriffen. Keinesfalls wäre er in dem Stuhl sitzengeblieben.«
»Der Verursacher war Guido!« rief Anne in höchster Erregung.
»Schon gut!« wehrte Adrian ab.
»Es war Guido! Ich war mit dem Mann siebzehn Jahre verheiratet. Es war Guido!«
»Bitte beruhige dich!« Kleiber packte Anne an den Oberarmen und sah sie mit festem Blick an. »Eigentlich ist es ganz unerheblich, ob der Mann Guido war oder irgend jemand anders. Ich bin überzeugt, der Betreffende wollte dir Angst einflößen, vielleicht dich dazu bringen, weitere Nachforschungen einzustellen. War dieser Mann im Lehnstuhl wirklich Guido, dann bedeutet das, daß er am Leben ist und daß er ein verwerfliches Spiel mit dir spielt, welche Gründe auch immer er dafür haben mag. War dieser Mann ein anderer in Guidos Maske, so ist das Motiv eigentlich dasselbe: Sie wollen dich fertigmachen.«
»Aber es war Guido«, wiederholte Anne weinerlich.
»Gut. Es war Guido. Was hat er angehabt?«
Anne dachte nach. »Ich war viel zu aufgeregt, als daß ich mir seine Kleidung näher angesehen hätte; aber er trug einen dunklen Anzug, dunkelgrau oder braun; ja, ich glaube, es war einer von Guidos Anzügen.«
»Aus seinem Kleiderschrank?«
»Ich glaube, wir denken beide das gleiche«, erwiderte Anne.
Guidos Kleiderschrank im oberen Stockwerk des Hauses nahm eine ganze Wand ein. Anzüge, Sakkos und Hosen hingen dicht gedrängt. Dazwischen zwei leere Bügel.
»Fehlt etwas?« erkundigte sich Kleiber.
Anne berührte jedes einzelne Kleidungsstück mit der Hand. »Ich bin nicht sicher«, sagte sie, »aber ich glaube, es fehlen zwei Anzüge, der, den Guido bei dem Unfall trug, und ein zweiter Anzug in dunkelgrau. Ja, genau der!«
»Das würde bedeuten, daß Guido oder der Mann, der sich für Guido ausgab, sich schon vor deiner Ankunft im Haus aufgehalten und nur auf die Gelegenheit gewartet hat, dich zu Tode zu erschrecken.«
»So muß es sein«, erwiderte Anne, »anders ist die Sache nicht zu erklären.«
Zu diesem Zeitpunkt wußte sie selbst nicht mehr mit Sicherheit zu sagen, ob der Mann in dem Lehnstuhl wirklich Guido oder nur ein Darsteller ihres Mannes gewesen war. Aber Adrian hatte recht: Es spielte letztlich keine Rolle, wer sich dahinter verbarg, denn der eine war so perfide wie der andere.
Anne vermied es, sich in dem Lehnstuhl niederzulassen; statt dessen setzte sie sich auf einen schwarzen Stuhl aus geschnitztem Holz, der aus einem alten Kloster stammte, stützte den Kopf auf ihre Hände und versuchte zum wiederholten Male Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, warum der unbekannte Gegner es darauf anlegte, sie in den Wahnsinn zu treiben, während er ihr Leben schonte. Geschah dies aus purem Sadismus, oder versprach er sich davon einen Vorteil? Sie fand keine
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