Das Fuenfte Evangelium
Verführung nachzudenken, weil das vorangegangene Erlebnis alle anderen Gedanken überlagerte. Wie konnte sie Adrian glaubhaft machen, daß sie normal war?
»Du hältst mich für verrückt, nicht wahr?«
»Ach was«, erwiderte Kleiber, »das ist jetzt nicht die Frage. Ich glaube dir ja, daß du Guido gesehen hast; aber das hat mit der Realität nichts zu tun, verstehst du! Du bist nervlich am Ende, das kann man dir nicht verdenken. Das hat auch nichts mit Paranoia zu tun. Dein Verstand hat dir einfach einen Streich gespielt. Mir scheint die Frage viel wichtiger, wie kann ich dich aus dieser Krise herausholen.«
Adrians Worte kränkten Anne. Ihre Augen funkelten zornig. Sie rief: »Zieh dich an, ich bitte dich, zieh dich an und komm mit!«
Kleiber hielt es nicht für ratsam, Anne zu widersprechen. Im Gegenteil, dachte er, wenn sie gemeinsam in ihr Haus zurückführen, würde sie von selbst erkennen, daß sie einem Trugbild aufgesessen war. Also zog Kleiber sich an und fuhr mit Anne nach Hause.
4
D er Regen hatte nachgelassen und eisigem Herbstwind Platz gemacht. Auf dem Weg vom Hotel zu Annes Haus war kein Wort gefallen, und Adrian hatte registriert, wie ihre Unruhe mit jedem Kilometer wuchs. Als Anne vom Ring in die Seitenstraße einbog, von der aus das Haus zum ersten Mal ins Blickfeld kam, sagte sie aufgeregt: »Da!« und deutete auf die hellerleuchteten Fenster.
»Ich schwöre, das Haus war stockfinster, als ich es verließ.«
Adrian nickte.
Anne hielt den Wagen auf der dem Haus gegenüberliegenden Seite an, sie preßte die Stirn gegen das Lenkrad und schloß die Augen, als wollte sie alles um sie herum ungeschehen machen. Sie atmete schwer.
»Nein«, sagte sie schließlich, »du bringst mich nicht mehr in dieses Haus. Ich habe Angst, verstehst du? Denn hält Guido sich da drinnen auf, so fürchte ich mich vor ihm. Ist er aber nicht im Haus, dann fürchte ich mich vor mir selbst.«
Adrian versuchte ihren Kopf aufzurichten, aber Anne hielt ihn krampfhaft gegen das Lenkrad gepreßt. Adrian erwiderte: »Anne, du mußt jetzt tapfer sein. Es hat keinen Sinn, wenn du dich vor der Wahrheit versteckst. Du mußt der Wahrheit ins Auge blicken, sonst wirst du verrückt. Komm!«
»Meine Nerven halten das nicht aus.«
»Sie müssen es aushalten, also komm!«
Als er merkte, daß seine Worte ohne Erfolg blieben, stieg Adrian aus, ging zur Fahrerseite, öffnete die Wagentür und zog Anne mit sanfter Gewalt aus dem Fahrzeug. Anne ließ es geschehen. Sie wehrte sich nicht, weil sie Kleiber insgeheim recht gab: Sie mußte, wollte sie diese Psychose nicht ein Leben lang mit sich herumschleppen, in das Haus gehen.
»Halt mich fest«, bat Anne ängstlich und hakte sich bei Adrian unter. Die Straße war leer, und der Wind blies ihnen ins Gesicht, so daß sie froh waren, als sie den schützenden Hauseingang erreicht hatten. Weit entfernt schlug eine Kirchturmuhr. Es mußte fünf sein oder sechs, aber das war auch unerheblich, jedenfalls graute der Tag noch nicht.
Anne reichte Kleiber den Schlüssel. Sie konnte sich auch nicht erinnern, ob sie bei ihrer Flucht die Haustür zugeschlagen hatte. Adrian sollte aufschließen, sie selbst sah sich nicht in der Lage dazu.
Adrian Kleiber war alles andere als ein ängstlicher Mensch. Aber in dem Augenblick, als er die Haustür aufschloß und vorsichtig aufstieß, spürte er den Pulsschlag in seinen Schläfen. Jetzt war er sich keineswegs mehr sicher, daß die Nerven Anne einen Streich gespielt hatten. Hatten sie nicht in den vergangenen Tagen die unwahrscheinlichsten Dinge erlebt? Waren sie nicht einem Irren begegnet – aufgrund seiner Tat konnte man ihn nicht anders bezeichnen –, der, wie sich herausstellte, völlig normal war? Hatte er, Kleiber, zunächst nicht selbst gezweifelt, ob das alles stimmte, was Anne zu berichten wußte? Vielleicht war Guido von Seydlitz wirklich nicht tot? Steckte am Ende er hinter der Inszenierung rätselhafter Ereignisse?
Sie hielten den Atem an und lauschten. Auf der Straße radelte ein Zeitungsjunge vorüber. »Komm!« sagte Kleiber und nahm Anne an der Hand.
Obwohl es doch ihr eigenes Haus war, fühlte Anne sich wie ein Eindringling. Es kam ihr so vor, als forschte sie das Leben einer fremden Frau aus.
In der Mitte der Diele blieb Kleiber stehen, er sah Anne fragend an, und sie wies mit dem Kopf zur letzten Tür auf der rechten Seite. Diese stand etwa eine Handbreit offen, und durch den schmalen Spalt fiel ein Lichtschein.
Adrian spürte
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