Das Fuenfte Evangelium
ihr jene Ruhe zurückgegeben, die ihr durch die Vorfälle der letzten Wochen abhanden gekommen war.
3
A llmählich, dachte sie, müsse sie wieder normal werden, normal denken, normal empfinden, normal reagieren. Die Empfindungslosigkeit und jene Kälte, die sie in ihrem Innersten spürte, beunruhigte sie, weil sie ein anderer Mensch zu werden drohte, es vielleicht schon war, ein Mensch ohne Herz, ohne klare Gedanken und nur mit einem einzigen Gefühl vertraut, der Angst.
Sie konnte von Glück reden, Adrian Kleiber begegnet zu sein, dem einzigen Menschen, dem sie sich anvertraut hatte, ohne befürchten zu müssen, als Psychopathin verdächtigt zu werden. Kleiber war inzwischen selbst so in den Fall verstrickt, daß auch er nicht mehr imstande war, einfach auszusteigen oder zu sagen, das geht mich nichts an, laß mich in Frieden mit deinen Verrücktheiten.
Still! Anne schreckte hoch. Ihr war, als hätte sie die Tür zur Bibliothek gehört, deren Klinke ein sanftes Quietschen von sich gab. Sie saß aufrecht im Bett und lauschte, und sie fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Behutsam atmete sie durch den Mund. So saß sie starr etwa zwei endlos lange Minuten; dann ließ sie sich auf ihr Kissen sinken. Sie weinte. Die Nerven. Ja sie mußte zugeben, daß sie mit ihren Nerven am Ende war, daß sie öfter des Nachts hochschreckte und ungewohnten Geräuschen lauschte, und natürlich würde sie sich auch diesmal getäuscht haben.
Sie schluchzte und hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als unten ein Glas zersplitterte.
Das Cognacglas, das sie eingegossen hatte! Anne faßte unter das Kopfkissen. Sie zog ein langes Küchenmesser hervor, welches sie neuerdings dort aufbewahrte, und hielt es vor sich wie ein Schwert; dann erhob sie sich und schlich auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer.
Wie in Trance tappte sie vorsichtig den dunklen Korridor entlang zur Treppe, die nach unten führte. Sie brauchte kein Licht, denn im Gegensatz zu jedem Eindringling kannte sie das Haus wie ihre Handtasche. Und die Dunkelheit war ihre stärkste Waffe. Ihre Wangen glühten wie Feuer, als sie ihren Fuß auf die erste Treppenstufe setzte und lauschte.
Nichts.
In diesem Augenblick wünschte sie, da unten einem Einbrecher zu begegnen, und sie wünschte es nur deshalb, weil sie sich dann trösten konnte, noch nicht verrückt zu sein. Für den Fall, daß sie sich das alles wieder nur eingebildet hätte, nahm Anne sich vor, das Messer gegen sich zu richten, Schluß zu machen, bevor sie ganz vor die Hunde ginge.
Sie fühlte, wie das lange Messer in ihrer Hand zitterte. Anne wußte auch nicht, ob sie die Kraft aufbringen würde, es einem Eindringling in den Leib zu rammen; aber dann sagte sie sich, du wirst es tun, du wirst ihn töten, du schaffst es!
Auf der untersten Stufe angelangt, wandte sich Anne nach links. Der Marmorboden war eiskalt, doch nach zwei Schritten erreichten ihre Füße einen Perserteppich. Vorbei an einer Anrichte mit einer Blumenvase fehlten noch fünf, sechs Schritte bis zur Bibliothek.
Die Tür war nur angelehnt, und durch den schmalen Spalt fiel ein fahler Lichtschein, den die Straßenbeleuchtung in den Raum warf. Anne hielt inne. Sie lauschte. Ihre Augen bohrten sich durch den Türspalt. Eigentlich hatte sie erwartet, das Blitzen einer Taschenlampe zu erspähen oder zu hören, wie jemand Schubladen und Schränke öffnete. Aber nichts dergleichen geschah, absolut nichts.
O nein, du hast dich nicht getäuscht, sagte sich Anne im stillen, du hast mit deinen eigenen Ohren das Splittern des Glases gehört, und nachdem Gläser sich nicht selbständig machen und zu Boden hüpfen, muß sich jemand in diesem gottverdammten Raum aufhalten, und du wirst ihn mit diesem Messer umbringen.
Aber dann ging alles unglaublich schnell: Mit dem Messer in ihrer Rechten stieß Anne die Tür auf, mit der Linken schlug sie auf den Lichtschalter, die Deckenbeleuchtung flammte auf, grell wie ein Blitz in der Nacht, und Anne starrte in das Bibliothekszimmer.
Was sie sah, ließ sie zu Eis erstarren. Sie versuchte mit einer reflexartigen Bewegung zu fliehen, aber Anne merkte, daß ihre Glieder den Dienst versagten. Der rechte Arm mit dem Messer baumelte herab wie der einer Vogelscheuche, mit dem Kopf vollführte sie ruckartige Bewegungen, als wollte sie sich losreißen von einer magnetischen Kraft – vergeblich.
Vor ihr in dem Lehnstuhl saß Guido. Er trug einen dunklen Anzug und hob die Hand mit unendlicher Langsamkeit, als
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