Das Fuenfte Evangelium
Antwort.
»Hattest du eigentlich einen Totenschein von Guido?« Kleibers Frage traf Anne von weither.
»Totenschein? – Ja, natürlich.« Sie öffnete den Sekretär.
Während sie in einem Stoß Papier kramte, fragte Adrian weiter: »Hast du Guido nach seinem Tod noch einmal gesehen?«
Anne verneinte, sie habe es abgelehnt. Seine Verletzungen seien so abscheulich gewesen. Ihre Bewegungen wurden zunehmend heftiger, je länger sie suchte. »Der Totenschein lag hier auf dem Stoß!« beteuerte sie. »Das kann ich beschwören. Aber nein da fällt mir ein, den Totenschein hat ja das Beerdigungsinstitut bekommen.«
Adrian maß ihrer Aussage keine größere Bedeutung bei und meinte: »Hieltest du es für möglich, daß Guido noch am Leben ist? Ich meine, jetzt, nach all dem, was geschehen ist?«
Anne stützte den Kopf wieder in die Hände und blickte ratlos vor sich hin. Vor ein paar Stunden noch, unmittelbar nach dem furchtbaren Erlebnis, hätte sie die Frage entrüstet zurückgewiesen. Natürlich hatte sie Guido erkannt, den Mann, mit dem sie siebzehn Jahre Ehe verbracht hatte. Doch nun mußte sie sich auf einmal eingestehen, die äußere Erscheinung dieses Mannes war ihr keineswegs so im Gedächtnis, daß sie ihn von einem Doppelgänger hätte unterscheiden können. Sie schüttelte den Kopf und dachte, da lebst du viele Jahre mit einem Menschen zusammen und glaubst ihn bis in sein Innerstes zu kennen, und dann mußt du erfahren, daß er ein Doppelleben führte, und bist nicht einmal in der Lage, ihn exakt zu beschreiben.
Weil Anne keine Antwort fand, stellte Adrian seine Frage anders: »Ich meine, würdest du Guido dieses makabere Versteckspiel zutrauen?«
»Bis vor ein paar Wochen, nein«, erwiderte Anne, »undenkbar, nein. Aber nach allem, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat … Weißt du, wir führten keine schlechte Ehe, freilich auch keine besonders gute; aber im Vergleich mit den meisten anderen Ehen habe ich die unsere eher positiv eingeschätzt. Gewiß, Guido war viel unterwegs; aber ich vertraute ihm, jedenfalls hatte ich keinen Grund zur Klage. Ich erinnere mich an ein ernsthaftes Gespräch zwischen uns. Es ging um das Thema, daß eigentlich jeder von uns seine eigenen Wege ging, was Guido zu der Bemerkung veranlaßte, das sei nun einmal so in einer modernen Ehe; worauf ich erwiderte, wenn er je das Bedürfnis verspüre, mich zu betrügen, so solle er es heimlich tun, so daß ich es nicht merke. Guido scheint das als Aufforderung verstanden zu haben. Jedenfalls läßt die Frau in seinem Wagen keinen anderen Schluß zu.«
Durch das Fenster graute ein unfreundlicher Dezembermorgen, und Anne erhob sich, um in der Küche Kaffee aufzusetzen. Dabei sah sie, daß sie unter ihrem Mantel noch immer nackt war, so wie sie aus dem Haus geflohen war, und sie ging in das obere Stockwerk, um sich anzukleiden.
Als sie zurückkam, meinte Anne: »Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß Guido das alles inszeniert hat, er hatte immer einen Hang zum Makaberen, ja er hätte sogar ein Motiv; trotzdem wäre das alles unlogisch.«
»Das sehe ich auch so«, stimmte Adrian zu. »Hätte Guido sich mit dem Gedanken getragen, für immer zu verschwinden, dann hätte er bestimmt auch eine einfachere Lösung gefunden. Vor allem aber stellte sich im anderen Falle die Frage, wer ist der Mann in Guidos Grab? Nein, ich halte das für unmöglich.«
»Selbst wenn er daran interessiert wäre, mich zu beseitigen, hätte er davon absolut nichts. Sein Tod ist aktenkundig, er könnte nicht einmal sein eigenes Vermögen beanspruchen.«
5
W ährend sie Kaffee tranken und redeten, kamen Anne und Kleiber zu dem Schluß, daß die mysteriöse Erscheinung der vergangenen Nacht im Zusammenhang mit den übrigen Ereignissen stehen mußte und mit ihrer Beziehung zu Guido nichts zu tun hatte. Unklar blieb beiden jedoch die Absicht, die sich hinter dem makaberen Schauspiel verbarg. Dabei wurde Anne bewußt, daß sie völlig falsch reagiert hatte, so wie es der geheimnisvolle Regisseur geplant und erwartet hatte. Sie wünschte, sie hätte den Mann ausgelacht und ihn einen Schmierendarsteller genannt und aus dem Haus geworfen. Mein Gott, dachte sie, wer hat schon die Nerven!
Die Idee kam ihr plötzlich und muß wohl aus dem Vorangegangenen verstanden werden: Anne verspürte auf einmal das Bedürfnis, Guidos Grab aufzusuchen. Das war ungewöhnlich, weil sie seit ihren Kindertagen Friedhöfe haßte. Mit sechs Jahren hatte sie am Grab ihres Vaters
Weitere Kostenlose Bücher