Das Fuenfte Evangelium
gestanden, und das Erlebnis hatte sich in ihr Gedächtnis eingegraben. Seither mied sie Friedhöfe. Nach Guidos Beerdigung hatte sie alle anfallenden Arbeiten und die Pflege des Grabes einem Institut übertragen, und damals hatte Anne beschlossen, nie mehr einen Schritt auf diesen Friedhof zu tun.
Die schlichte Trauerfeier war ihr durchaus noch im Gedächtnis, wenngleich sie das Absenken des Sarges in das Grab wie durch einen Schleier erlebt hatte. Im Grunde wollte sie es nicht sehen, und sie hatte den Tag auch längst erfolgreich verdrängt – jedenfalls glaubte sie das –, doch nun auf einmal trieb sie eine geheimnisvolle Kraft an das Grab, als wollte sie bestätigt sehen, daß Guido wirklich von einer braunen, schmutzigen Schicht Erde zugedeckt war.
Als sie Kleiber diesen Wunsch anvertraute und die Hoffnung aussprach, er würde sie zum Waldfriedhof begleiten, da machte Adrian zunächst ein ungläubiges Gesicht, weil er von ihrer Abneigung wußte; aber dann sah er ihren entschlossenen Blick und willigte ein, mit ihr zu kommen. Anne gab ihm zu verstehen, sie werde erst dann von Guidos Tod überzeugt sein, wenn sie sehe, daß sein Grab unversehrt sei.
Das Grab war unberührt, das heißt mit einem grauen Marmorstein und mit Blumen versehen, so wie sie es bei dem Bestattungsinstitut in Auftrag gegeben hatte, und Kleiber fragte sich, warum sie überhaupt diesen ungewöhnlichen Kontrollgang auf sich genommen hatten. Aber Anne machte nach der Rückkehr vom Friedhof einen gefaßteren Eindruck; sie wirkte beinahe befreit, obwohl sich an der Situation nichts geändert hatte.
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W as das Verhältnis der beiden zueinander anging, übte Anne gegenüber Kleiber dieselbe Zurückhaltung aus wie vorher, und der hatte das auch gar nicht anders erwartet. Zwar hatten sie sich auf dem Fußboden seines Hotelzimmers geliebt wie ein Paar nach jahrelanger Trennung, aber Anne schien das Erlebnis verdrängt zu haben wie einen Alptraum; ja, Adrian zweifelte, ob Leidenschaft überhaupt zu ihrer Erlebniswelt gehörte, ob dieser außergewöhnliche Liebesakt nicht vielleicht nur ein Kurzschluß in ihrem Seelenleben gewesen war.
Natürlich wäre es das Einfachste gewesen, mit Anne darüber zu reden; aber Adrian scheute sich, weil er die Antwort zu kennen glaubte: Er möge ihr Zeit lassen, sie sei einfach noch nicht soweit – so wie sie es bei ihrem ersten Wiedersehen erklärt hatte, und es hätte ihn nicht erstaunt, wenn Anne bei einem solchen Gespräch ihren Ausbruch von Leidenschaft schlichtweg geleugnet hätte.
In Sachen Liebe verfügte Adrian über kein übermäßig intensives Gefühlsleben, und das war mit ein Grund, warum er trotz seiner Jahre nicht verheiratet war, sich auch noch nie mit dem Gedanken getragen hatte. Er konnte über Mangel an Frauen nicht klagen, aber in den meisten Fällen dauerte so eine Beziehung nicht länger als ein Jahr. Spätestens nach einem Jahr wußte jede Frau, daß dieser Mann nur einen Partner wirklich ernst nahm – seinen Beruf.
Adrian war sich dieser Tatsache durchaus bewußt und hatte Verständnis, wenn Frauen sich nach einer gewissen Zeit aus seinem Leben zurückzogen, auch hin und wieder bei ihm auftauchten und wieder verschwanden. So hatte er nicht wenige Geliebte, aber keine feste Partnerin, worunter er aber nicht einmal litt.
Mit Anne schien das ganz anders. Vielleicht, weil Anne von vornherein eine Schranke zwischen ihnen errichtet hatte. Er war das nicht gewöhnt. Frauen hatten es ihm immer leicht gemacht, viel zu leicht sogar, so daß jenes unausgesprochene ›Rühr mich nicht an‹ auf ihn einen ganz besonderen Reiz ausübte. Und der sexuelle Überfall in schlaftrunkenem Zustand gehörte ohnehin zu seinen bedeutsamsten Erlebnissen in Sachen Erotik.
Seine freundschaftliche Zuneigung Anne gegenüber hatte sich seit jener Nacht im Hotel zu wahrer Leidenschaft gewandelt, die alles bisher Dagewesene übertraf. Was er nie für möglich gehalten hätte: Anne zuliebe hatte er sogar seinen Beruf zurückgenommen und den ›Fall‹, hinter dem er zunächst vor allem eine große Geschichte gesehen hatte (er hatte sogar von Professor Vossius in St. Vincent de Paul heimlich Aufnahmen gemacht), zur Privatangelegenheit erklärt.
So gab es für Anne zwei Gründe, warum Kleiber sich mit solcher Intensität mit ihrem Fall beschäftigte, zum einen seine persönliche Neugierde – ein guter Reporter bleibt immer neugierig –, zum anderen aber wußte Adrian genau, daß er Anne nur würde gewinnen
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