Das Fünfte Geheimnis
schien Bird jetzt klar, daß Hijohns Not ihn irgendwie zurückgerufen hatte von dort, wo auch immer er verlorengegangen war. Er hätte noch viele Jahre verloren sein können, vielleicht sogar für immer; der Gedanke verursachte ihm ein kaltes Gefühl in der Magengrube.
Er bemerkte, daß sein Körper sich steif und schmerzhaft anfühlte, doch der Schmerz war dumpf, und er schien daran gewöhnt. Sein linkes Bein und die Hüfte schmerzten und wenn er die Seite zu lange belastete, begannen die Muskeln in seinem Schenkel zu zittern. Seine Hände am Besenstiel schienen steif, die Finger irgendwie mißgebildet, als wären sie gebrochen gewesen und nicht ordentlich gerichtet. Das verstörte ihn auf seltsame Weise mehr als alles andere. Als hätte er hier einen Verlust erlitten, der so elementar war, daß er sich vor der Erinnerung daran schützen mußte. Doch es zerrte in seinem Hinterkopf wie fließende Musik, wie Melodien, die von den Saiten einer Gitarre perlten.
Und dann traf ihn die Erinnerung mit einer Gewalt, die geradezu körperlich war, die ihn schwitzen ließ, und er umklammerte den Besenstiel, um Halt zu finden. Er konnte sich plötzlich an seine Finger erinnern, die geschickt und fließend Musik machten, indem sie aufgriffen, was schon vorhanden war. Die Musik floß durch ihn hindurch. Die Hände waren eins mit dem Instrument und in ihm eine große singende Stimme.
Er starrte auf seine zerbrochenen Hände, die schmerzten, wenn er sie um den Besenstiel schloß. Was hatte man ihnen angetan? Und ihm? In seinem Gedächtnis waren Gärten, der Geruch von feuchter Erde und Rosen, der dunkle Sound von Drums, Trommelgeräusche, die aus dem Kellergeschoß eines großen angestrichenen Hauses kamen, das sich wie sein Zuhause anfühlte. Der Name fiel ihm ein. Die Straße hinunter lag »Black Dragon House«, wo seine Großmutter lebte. Aber er konnte sich weder an ihren Namen, noch an ihr Gesicht erinnern. Er konnte Essensgeruch wahrnehmen. Zwiebeln und Knoblauch und Paprika, er konnte Stimmen hören und Gelächter, das aus dem Küchenfenster drang. Das war real. Das war, wohin er gehörte. Wie war er nur hierher geraten? War er durch einen Spalt in Zeit und Raum hier herübergerutscht? Und war er nun hinter diesen Mauern gefangen und zerbrochen?
»Beweg' den Besen, Kerl!« Bird hatte die Wache nicht bemerkt, die die Halle herunter auf ihn zukam. Es war der große, der Neue, Harris. Als er vorbeiging, stieß er Bird rauh aus dem Weg. »Beweg' deinen gottverdammten Arsch!«
Bevor Bird reagieren konnte, war er schon weg, und das war gut so, dachte Bird. Denn er war plötzlich so voller Aufruhr, daß er mit Leichtigkeit etwas Dummes hätte tun können. Wenn er sterben wollte, fiel ihm plötzlich ein, hatte er dazu jede Möglichkeit. Doch was er wirklich wollte, war, diese Mauern und die Metallgitter einreißen und wieder klare Luft atmen. Er fühlte, wie die Erregung in ihm floß und schließlich konnte er sie als vitale Kraft fühlen. Es kam ihm der Gedanke, daß er trotz seiner Schmerzen und Verluste doch sehr lebendig war. Er könnte überleben und sehr sehr lange in diesen kahlen Mauern und öden Korridoren gefangen sein. Sein Brustkorb zog sich zusammen und er hatte Mühe, weiter zu atmen.
Wo Furcht ist, ist auch Kraft, sagte er zu sich selbst. Von irgendwoher erinnerte er sich an diesen Satz. Er mußte hier raus.
✳✳✳
Der lange Tag ging zu Ende. Nach ein paar Stunden langweilte es Bird, noch länger darüber nachzudenken, ob er nun wirklich verrückt wurde. Er kämpfte vielmehr, um immer mehr Bruchstücke seiner Erinnerungen festzuhalten, so wie er einst mit Fingern Halt gesucht hatte an blanken Felsen. Das war eine Erinnerung, körperlich und real, wie das zischende Geräusch des Besens, der ganz konkret den Fußboden fegte. Er konnte den sonnenwarmen Granit riechen und er hörte Stimmen von unten, die ihn anfeuerten. In seinem Körper fühlte er die Furcht in jeder Faser und dann die Erschöpfung, als er sich über eine steile Klippe nach oben zog. Aber er konnte diesen Augenblick in keinen Zusammenhang mit anderen Dingen oder mit sich selbst bringen.
Er fand heraus, daß er mit der Stufe zur Bewußtlosigkeit spielen konnte, als wäre sein Gedächtnis ein Ballon an einer lockeren Schnur, die er durch die Finger gleiten lassen konnte, um dann plötzlich fest zuzugreifen. Wenn er seine Erinnerung treiben ließ, bekam die Zeit selbst in dieser grauen Wirklichkeit Leuchtkraft. Auch die rhythmischen Bewegungen
Weitere Kostenlose Bücher