Das Fünfte Geheimnis
Laß es deine Hände tun. Sein Verstand war immer noch wie taub. Der Schmerz des anderen war ein lästiges Geräusch in seinem Kopf. Wenn dieser Schmerz ein Geräusch machen konnte, vielleicht ließ es sich auch verändern. Aber das war nicht möglich. Konnte er das Geräusch in seinem Geist verändern? Er erinnerte sich an einen alten Gesang:
Wenn wir die Kraft haben,
sind wir die Heiler;
Wie die Sonne
werden wir uns erheben...
Der letzte Ton klang in seinem Kopf nach, er hielt ihn, verstärkte ihn und stellte sich vor, wie er durch den verletzten Körper dort auf dem Bett schwang.
Tatsächlich, der Atem des Mannes wurde langsamer, tiefer und bekam mehr Substanz. Birds inneres Gehör schärfte sich. Er hörte nun, was dem Mann fehlte. Er hörte die gebrochenen Rippen. Die verletzten Nieren waren Dissonanzen, die die Harmonie des Körpers störten. Doch er konnte eine Note finden, die die schlimmsten Zerstörungen aufhielt. Der Mann würde leben.
Die Augenlider des Mannes zitterten. In der Dunkelheit war die Bewegung kaum sichtbar. Nun öffnete er die Augen. Bird konnte ihre Farbe nicht sehen, aber er ahnte ihre Intensität. Die Lippen des Mannes bewegten sich, als wisperte er etwas. Bird beugte sich ganz nah über ihn.
»Die Erde ist unsere Mutter«, sagte der Mann.
Das war der Anfang eines Liedes. Bird erfaßte, daß der Mann eine Erwartung hatte, als wartete er auf eine Entgegnung.
»Wir müssen sie bewahren«, beendete Bird den Vers.
Ein schwaches Lächeln huschte über die Lippen des Mannes. »Danke Bruder«, wisperte er und schlief ein.
Bird kroch zurück zu seiner Pritsche und legte sich neben Littlejohn. Sein Herz schmerzte. Er wollte gern schlafen, aber er hatte Angst, das Bewußtsein zu verlieren, Angst, es nicht wieder zu erlangen.
»Was hast du gemacht?« fragte Littlejohn.
»Er wird okay sein«, flüsterte Bird.
»Paß lieber auf, Mann. Wenn sie dich erwischen, wie du jemanden behext, bringen sie dich um. Ich rate dir, bleib ganz cool. Ich meine, tu weiter so als wärst du verrückt. Bist du nun eigentlich wieder klar?«
»Comprendo.«
»Scheiße. Sprich Englisch.«
»Com... klar. Hab's verstanden. Göttin, hab ich Kopfschmerzen!«
»Kann sein, daß du unter einem starken Zauber warst. Oder du hast es selbst gemacht. Woher kommst du?«
Er wußte nicht, was er antworten sollte. Bilder blitzten in ihm auf: Gesichter, Gärten, eine City. Die Fassade eines Hauses mit einem steilen Dach. Sein Kopf wollte sich öffnen, und er konnte nicht sagen, welche dieser Bilder real waren.
»Von weit,« sagte er. Das zumindest, da war er sicher, war richtig. »Von weit, weit weg.«
Eine Glocke läutete blechern. Littlejohn sprang aus dem Bett, zog graue Hosen und ein Sweatshirt an und schob Bird einen Haufen der gleichen Sachen hin. Seine Geste war ganz automatisch, als wäre er gewohnt, es immer so zu machen.
»Zieh das an,« sagte er. »Steh schnell auf. Ein Appell.«
Bird hatte gerade noch Zeit, in die Sachen zu schlüpfen und mühsam aufzustehen, da sprang auch schon die schwere Eisentür auf. Fünf hochgewachsene Wachmänner kamen herein und überschauten die Szene. »Alles auf zum Appell!« bellte einer.
Urplötzlich war der Raum angefüllt mit Scharren und Murmeln.
Sechzig Männer kämpften sich auf die Füße. Der Mann im Bett an der Tür lag immer noch halb bewußtlos da. Einer der Wachmänner riß ihn mit einer rauhen Bewegung hoch. Nun lehnte er am Metallgestell der Pritsche, während die Wachen herumgingen und zählten, einmal, zweimal und noch einmal.
»Aufstellen zum Frühstück.«
Bird stand hinter Littlejohn und machte halb bewußtlos nach, was dieser tat. Mechanisch hielt er Ausschau nach dem Mann, dem er geholfen hatte. Im hellen Licht konnte er sehen, daß der Mann sehr mager war, eigentlich nur Haut und Knochen. Seine dunkle Haut war kreuz und quer durchzogen von feinen Fältchen, die ihn nicht gerade alt, aber irgendwie weise erscheinen ließen. Er sah aus wie ein verschrumpelter Apfel, der zu lange in der Sonne gelegen hatte. Aber Bird wagte nicht, ihn zu sehr anzustarren oder gar seinen Blick einzufangen.
Die Gefangenen stellten sich in einer Schlange auf, die durch einen langen grauen Betonkorridor bis zum Eßraum reichte. Dort nahmen sie Aufstellung, um ihre Tabletts mit Essen von körperlosen Händen hinter einer Metallwand in Empfang zu nehmen. Sie saßen auf Bänken und aßen schweigend. Bird empfand diese Routine seltsam vertraut, als hätte ein Teil von ihm dies
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