Das Fünfte Geheimnis
letzter Zeit fühlte er sich so rastlos, und er wußte, er würde erst Ruhe finden, wenn er sich total verausgabt hatte.
»Da ist eine Frage im Training aufgetaucht. Ist es unser Ziel, den Feind sozusagen umzudrehen, ihm Liebe, Frieden und Freundlichkeit nahezubringen, oder wollen wir ihn nur aus dem Gleichgewicht bringen?«
»Unsere Strategie«, sagte Lily, »ist, den Teufelskreis von sich ständig wiederholender Gewalt zu durchbrechen. Wenn wir damit Erfolg haben, können wir beides erreichen: Unsere Gegner verunsichern und einige von ihnen auf unsere Seite ziehen.«
Bird blickte sie an. Sie sah so ruhig aus, so überzeugt von dem was sie sagte, so hübsch in ihrem weißen Seidenhemd. Er dagegen hatte schmutzige Hände vom Unkrautjäten im Garten, und ihn quälten die ganze Zeit Selbstzweifel.
»Lily, ich möchte gern daran glauben, daß wir auf diese Weise gewinnen können. Es berührt etwas, woran ich zutiefst glaube. Es war schwierig für mich, im Council darüber zu sprechen, aber was ich dort gesagt habe, ist wahr: Ich will nicht töten. Aber ich war dort unten, in den Southlands, ich weiß, was uns erwartet. Jeden Tag wache ich auf und bin versucht, das Council zu bitten, die San Bruno Mountains zu besetzen und den Highway 101 zu verminen.«
»Dieser Gedanke beherrscht sicherlich noch mehr von uns. Gewalt ist eine so einfache, klare, direkte Sache. Als ich jung war, hatte ein Freund meines Bruders einen Geländewagen mit einem Aufkleber: Gewalt siegt! Und niemand kann daran zweifeln. Aber was beim Zusammentreffen von Gewalt und Gewalt passiert, ist bekannt. Es ist das, was immer passiert ist, immer wieder, seit Tausenden von Jahren.«
»Weil es funktioniert«, stimmte Bird gequält zu.
Lily wischte ein Staubkörnchen vom Ärmel ihrer Jacke: »Es gibt ein Sprichwort: Nur ein Wahnsinniger tut immer wieder dasselbe und erwartet immer wieder andere Resultate.«
»Ja, und Wahnsinn hofft immer auf Ergebnisse, wie sie noch nie dagewesen sind.«
Lily stand auf, strich ihr Hemd glatt und blickte auf Bird hinunter, der im Gras lag.
»Bird, deine Ängste und Zweifel sind völlig normal. Wir alle haben sie. Aber wenn wir mit unserem Plan weitermachen, statt die alten Dinge zu wiederholen, einfach etwas Neues versuchen, dann kommt auch etwas Neues dabei heraus.«
»Aber was?«
»Leiden – unzweifelhaft. Vielleicht auch Wunder. Aber ganz sicher etwas anderes.«
✳✳✳
Bird hatte zwar kaum Appetit, aber er war hungrig auf Sex. Das große Bett im Ritual-Raum wurde jede Nacht benützt. Er lag zwischen Sage, Nita und Holybear, sie schmiegten sich aneinander und genossen die körperliche Nähe. Obwohl er nicht über seine Ängste sprach, fühlten die anderen doch seine Stimmung. Er erlaubte ihnen Dinge, die er niemals zuvor erlaubt hatte. Zärtliche Hände auf seinen Narben, Finger, die behutsam die malträtierten Muskeln seines Körpers durchkneteten.
Im Erdgeschoß schlief Maya mit Doktor Sam. Er war eines Tages spät nachts gekommen und hatte gefragt, ob er noch hereinkommen dürfe. Maya hatte gerade einen Schwung Cookies gebacken, von denen sie wußte, daß Bird sie gern aß. Sam verschlang das halbe Kuchenblech davon. Er sah Maya an, und sie sah ihn an. Sein Gesicht wirkte übermüdet, wie das eines Mannes, der zu lange zu viele Sorgen gehabt hatte. Scharfe Falten zeigten sich um seine grauen Augen. Die buschigen weißen Augenbrauen zogen sich zusammen, wenn er sich konzentrierte. Er erinnerte Maya an ihren Vater. Kein einfacher Mann, aber auch nicht unattraktiv.
Er seufzte.
»Schweren Tag gehabt?« fragte Maya teilnahmsvoll.
»Schwerer Tag? Es war die Hölle. Es sind wieder Flüchtlinge von der unteren Halbinsel gekommen. Das übliche. Ich gäbe etwas darum, wenn Madrone bald zurückkäme.«
»Das hoffen wir alle, Sam. Aber warum bist du eigentlich gekommen?«
»Weil ich glaube, daß du mich brauchst, Maya. Ich bin schon alt, ich weiß besser als ein jüngerer Mann wie du dich jetzt fühlst. Und ich brauche dich auch.«
»Ich bin alt genug, um deine Mutter zu sein«, gab Maya zurück und knabberte langsam an einem Cookie.
Er lächelte sie an: »Das ist schwer zu glauben.«
»Sam, ich bin praktisch schon tot. Hast du etwas für Nekrophilie übrig?«
Er ging um den Tisch herum, nahm ihr den Cookie aus der Hand und behielt ihre Hand in der seinen: »Maya, du bist eine schöne, kraftvolle und attraktive Frau. Jede Falte deines Gesichtes erzählt von deinem Leben.« Er streichelte ihre
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