Das Fünfte Geheimnis
mal her“, sagte Sam. Er streckte die Hand aus, und jeder sah, daß sie zitterte und Madrone bemerkte, daß ihm eine Träne über die Wange lief. Sam ließ die Hand sinken: „Lies mir lieber vor.“
„Lieber Sam“
, las Madrone,
„ich gehe, um den General zu verhexen. Du brauchst keine Angst um mich zu haben. Ich muß es tun, einerlei ob es gut oder schlecht ausgeht. Im schlimmsten Fall werde ich getötet. Und wirklich Sam, in meinem Alter kann ich den Tod nicht mehr fürchten. Ich liebe Dich. Du hast mir sehr geholfen, als es mir schlecht ging. Und in welcher Welt ich auch sein werde, ich werde Dir immer dankbar sein. Ich bedaure, dich allein zurückzulassen. Vergib mir und versuche, mich zu verstehen. In Liebe Maya.“
„Das ist Selbstmord!“ stöhnte Sam, „glatter Selbstmord.“ Seine Stimme überschlug sich, und er weinte. Madrone umarmte ihn und sprach beschwichtigend auf ihn ein, aber auch ihr kamen die Tränen.
„Ich liebe sie doch, Madrone“, weinte Sam, „ich liebe sie doch, wirklich!“
„Ich weiß, Sam, ich weiß.“
„Und wenn die Stewards herausbekommen, daß Bird ihr Enkelsohn ist...“
„Denk nicht darüber nach, Sam. Kein Grund, daß du dich selbst zerfleischt. Maya ist fort, und wir müssen sie gehen lassen. Und wenn wir ihr folgen, dann mit Magie und Hexenzauber, aber nicht mit Jammern und Klagen.“ Madrone wunderte sich über sich selbst, sprach sie wirklich so abgeklärt und weise zu Sam? „Leg' dich ein wenig hin, Sam“, sagte sie, „ruh dich bis zum Essen ein wenig aus. Ich werde mit Maya in Verbindung treten.“
„Ja, tust du's?“
„Ich schwöre es, Sam. Und nun leg' dich hin!“
✳✳✳
Madrone ging hinaus in den Hintergarten des Black Dragon Hauses. Im Gegensatz zu den meisten Vorgärten grünte es in den hinteren Gärten noch, obwohl das Unkraut sich auch hier immer mehr breit machte. Bienen summten zwischen blauen Borretsch-Blüten. Während es auf den Beeten noch ganz gut wuchs, weil sie öfter gewässert wurden, war der Rasen völlig verdorrt. Madrone legte sich auf das braune trockne Gras und schloß die Augen.
Sie konzentrierte sich auf ihren Atem und schlüpfte zurück in ihren Bienen-Instinkt. Sie sah die Welt nun nicht mehr, wie sie sie kannte, sondern in einem vielgestaltigen Prisma aus Licht und Schatten, unterbrochen durch farbige Linien. Spuren von Geruch bombardierten sie, der Geruch von Borretsch, der den Kopf klarmachte, der schwere Rosenduft und würziger Salbei. Sie konnte sich verlieren in den vielen verwirrenden Düften, die über Meilen herangeweht kamen. Die Versuchung war groß, einen auszuwählen und ihm zu folgen, einer ganz besonderen Süße bis zu ihrem Ursprung nachzugehen und schließlich in den Stock zurückzukehren und die Richtung vorzutanzen.
Nichts geschah mehr in Worten oder Bildern, sondern mehr wie ein Patchwork aus Vorstellungen und Gerüchen, aus Bewegungen und Gefühlen, ähnlich wie die Körperempfindung für den magnetischen Nordpol oder das Gefühl für Richtig und Falsch. Ja, und als sie sich dann dem Bienenstock näherte, war da Irritation. Ängstliches Summen; was jetzt kam, kannte sie nicht. Madrone sonderte einen beruhigenden Geruch ab, nicht den Geruch der Königin, der Wettbewerb hätte hervorrufen können, nur einen Geruch, der nahe genug mit diesem Geruch verwandt war, so daß sich die Bienen beruhigten. Sie war keine Bedrohung.
Doch unter ihrer augenblicklichen Beruhigung war ganz tief ein allgemeines Gefühl des Alarmiertseins verborgen. Nichts war mehr, wie es sein sollte. Die Gärten, auf die sie angewiesen waren, lagen vertrocknet da. So viele Blumen waren verschwunden, vertrocknet noch vor der Blüte. Überall rochen sie Furcht und Schmerz.
Madrone ließ den Honig aus ihrem Körper aufsteigen in die Bienennarbe auf ihrer Stirn und begann, mit ihnen zu sprechen. Es war eine Rede auf projizierten Visionen, aus Duftmolekülen. Ganz allmählich versammelten sie sich, berührten sie, tasteten sie ab, schmeckten, was sie zu sagen hatte, bis schließlich ihr ganzer Körper von Bienen bedeckt war.
Helft uns, sagte sie, und wir werden für euch die grünen Gärten mit den quellenden Wassern neu erstehen lassen, den Borretsch werden wir für euch wuchern lassen, und im Sommer werden wir für euch tanzen. Ihr seid ein Teil unserer Kraft – unserer vergessenen Kraft. Helft uns, bitte, kleine Schwestern, helft!
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Bird war nun schon so lange in diesem dunklen Verlies, allein mit den Toten, daß
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