Das Fünfte Geheimnis
Adieu ihr kleinen Sträßchen und gewundenen Pfade. Adieu ihr Wasserkanäle, Obstbäume und üppigen Gärten. Adiosa, ihr Kinder, die ihr so fröhlich lärmend hinter den Häusern herumtobtet. Jetzt seid ihr eingesperrt in die Häuser. Vielleicht wartet ihr ja darauf, daß ich euch befreie. Vielleicht denkt ihr aber auch, daß ich alles falsch mache.
Der Morgen war weit fortgeschritten, als sie endlich das große alte Herrenhaus oben auf Nob Hill erreichte, wo der General sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Das Haus war einst von einem schwerreichen Gold-Baron erbaut worden, damals im 19. Jahrhundert. Dann war es exklusives Clubhaus gewesen, zu dem Frauen keinen Zutritt hatten. Nach dem Aufstand und der City-Neugründung wurde es in ein Heim umgewandelt, in dem die Alten in Würde ihr Leben beenden konnten. Was mochte mit den alten Menschen geschehen sein, als die Stewards einmarschiert waren und das große alte Haus beschlagnahmt hatten? Lebten sie noch?
Der Garten rund um das Herrenhaus prangte in sattem Grün, das fiel ihr als erstes auf. Auf der elegant geschwungenen Treppe zum Portal des Hauses standen, einer hinter dem anderen aufgereiht, gespenstergleich in ihrer weißen Kleidung, Citybewohner und warteten auf eine Audienz. Bei einigen war die zur Schau getragene Geduld längst in Apathie umgeschlagen. Aber niemand ging wieder fort. Alle standen und warteten.
Ich werde nicht warten, dachte Maya.
Langsam schritt sie die Treppe hinauf und stützte sich dabei schwer auf ihren Stock. Bereitwillig wurde ihr Platz gemacht. Ein junges Mädchen kam heran und bot ihr den Arm an. Maya blickte ihr in die Augen und erschrak. Waren das nicht die Augen von Brigid, ihrer eigenen Tochter. Aber nein, nein, das war nicht Brigid. Einfach nur ein junges Mädchen mit dunklen Augen und dunklen Haaren. Brigid war tot, und nichts würde sie wieder lebendig machen. Wieder überkam Maya das hilflose Gefühl des Alters, der Ohnmacht.
Das schwere Eingangsportal war verschlossen. Maya klopfte mit dem Knauf ihres Stocks dagegen. Nichts rührte sich. Sie klopfte noch einmal, härter, heftiger. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, und ein dunkles Gesicht tauchte auf: „Weg hier oder wir sorgen dafür, daß du verschwindest. Hier kommt keiner ‘rein.“
„Das werden wir sehen“, sagte Maya und streckte blitzschnell ihren Stock vor, gleichzeitig drückte sie mit den Schultern gegen den Türflügel. Doch was ihr wirklich Eintritt verschaffte, das war der Ausdruck in ihren Augen. Sie fühlte selbst, daß etwas mit ihr geschehen war, daß sie verwandelt war. In ihr hauste nun die Große Schnitterin, La Segadora, das alte Weib, der Tod. Sie hatte sich verwandelt in die Unberührbare. Die Wache am Tor wich zurück. Maya trat ein und durchschritt die große Halle. Der Soldat hatte sich wieder gefaßt und versuchte, sie am Arm zu packen. Aber Maya hieb ihm ihren Stock zwischen die Beine, aufschreiend stürzte der Soldat auf den Marmorfußboden. Das war schon hart an der Grenze des gewaltfreien Widerstandes, dachte Maya. Während die Wache sich mühsam aufrappelte und um Hilfe schrie, schritt sie unbeirrt vorwärts zur großen Doppelflügeltür und stieß sie auf. Sie stand im Büro des Generals.
Der große helle Raum hatte riesige Fenster nach Norden, und der Ausblick war atemberaubend schön. Weit schweifte der Blick über die Bay und zum Mount Tamalpais. Der General saß hinter einem mächtigen Eichenschreibtisch. Ein großer alter Orientteppich bedeckte den Fußboden. Drei Offiziere standen neben seinem Tisch.
Maya stieß ihren Stock heftig auf den Boden, der General fuhr erstaunt herum und starrte sie an. So, wie er da hinter seinem Schreibtisch saß, war er das Bild eines harten alten Soldaten. Angefangen von seiner kräftigen Statur bis hin zu dem militärisch kurzen Haarschnitt seines strohgelben Haares. Seine Züge verhärteten sich, und er schaute sie an mit schmalen Augen.
„Was zum Teufel soll das. Wie ist die hier hereingekommen?“
„Sir...“, der Soldat aus der Halle war inzwischen hereingestürzt. Aber der General schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. Drohend und massig erhob er sich von seinem Sessel und ging langsam auf Maya zu.
„Wer zum Teufel bist du?“
Maya öffnete den Mund und wollte etwas erwidern. Doch die Worte, die sie dann sprach, schienen wie von weit herzukommen: „Ich bin dein Tod! Das, was du überall hinbringst, und was auch dich zum Schluß erwartet. Ich bin dein Schicksal.“
„Mein
Weitere Kostenlose Bücher