Das Fünfte Geheimnis
er kaum wußte, ob er lebte oder schon tot war. Sie hatten ihn in dieses dunkle Loch geworfen, wo die Stunden und Tage sich ins Endlose ausdehnten, wo er wie in einem Vacuum lag, ohne Schwerkraft. Anfangs hatte sich sein Körper noch zur Wehr gesetzt, hatte er Hunger und Durst und Schmerzen gelitten. Ab und zu war die Tür aufgegangen, irgend jemand hatte irgend etwas zu Essen hineingeworfen und den Eimer mit seiner Notdurft geleert. Von Zeit zu Zeit erinnerte er sich, daß er seinen Körper ein bißchen bewegen mußte, um die Muskeln nicht verkümmern zu lassen. Aber er fühlt sich zu kaputt, um irgendwelche körperlichen Übungen lange durchzuhalten. Meist ließ er nur seine Gedanken schweifen, hielt Zwiesprache mit Geistern. Nach und nach wurde das Band, das ihn mit dem Leben verband, dünn und zerbrechlich.
Er verlor sich nicht nur in seinen eigenen körperlichen Schmerzen, immer tiefer versank er in die Schatten fremder Pein, der Schmerzen einer Vielzahl anderer, einer Mischung aus Schuld, Furcht und Verzweiflung, die er nicht mehr auseinanderhalten konnte. Geister sprachen zu ihm, erzählten ihm ihr Qualen:
„Du hast uns gerufen, nun sind wir hier!“ schienen sie zu sagen, „nun höre! So und noch schlimmer war es, als wir als Sklaven von Afrika nach Westindien verschleppt wurden. So war es, als Nazi-Schergen frühmorgens an die Türen donnerten und uns in die Konzentrationslager verschleppten, als die Weißen unsere Gebetshäuser niederbrannten und uns in die Bergwerke schickten. Als alles, was wir gekannt und geliebt hatten, zerstört wurde. Höre uns, nähre uns, trag unser Leid!“
Nein, dachte Bird entsetzt, ich habe nichts, womit ich euch nähren könnte. Ich muß euch nicht zuhören. Ich kann schon meinen eigenen Schmerz nicht tragen und schon gar nicht all euer Leid. Diosa, ich habe zu viele Ahnen, zu viele mörderische Schicksale gab es in der Vergangenheit. Laßt mich, laßt mich allein!
„Höre uns, höre uns zu. Auch wir sind deine Ahnen! Ich verkaufte meine Tochter an die Sklavenhändler. Ich mußte sie wie Vieh verladen. Ich zerstörte die Tempel der Heiden, ich habe ausgepeitscht, ich habe vergewaltigt. Wir sind deine Ahnen, wir sind die Toten, die keine Ruhe finden. Höre uns, höre von unseren Schicksalen.“
Geht, stöhnte Bird, tötet mich, aber laßt mich endlich in Ruhe.
Vielleicht war er längst tot, gefangen in der Hölle, vor der die Millennialisten immer so warnten. Dabei kam ihm das alles so bekannt vor, als hätte er schon immer in der Hölle gelebt, seit Ewigkeiten. Es gab Momente, da wußte er nicht mehr genau, wer er war und wo. Und womit eigentlich hatte er diese Strafe verdient? Er war schwach gewesen, er hatte etwas verraten, aber es war ihm nicht klar, ob und wie und was und ob er überhaupt hätte widerstehen können. In seinem Kopf drehte sich alles, und wie war er nur in diesen Alptraum geraten? Und da waren Höllen über Höllen, in denen man verloren gehen konnte, es waren einfach zu viele, die Kehrseite der letzten fünftausend Jahre Geschichte, und er konnte keinen Ausweg finden, weil er die Macht der Killer akzeptiert hatte.
„Nein, wir wollen, daß du für uns singst, für uns sprichst, für uns betest, unser Leben rechtfertigst“, sangen die Geister seiner Ahnen im Chor, Täter und Opfer, Täter und Opfer, ihre Stimmen mischten sich.
„Aber ich kann nicht einmal mich selbst erlösen“, stöhnte Bird, „ich sterbe hier, ohne mich rechtfertigen zu können.“
„Dann gibt es keine Hoffnung mehr für dich“, und die Stimmen verschwanden im Nebel.
Keine Hoffnung, keine, gar keine, wirklich keine, dröhnte es immer lauter in Birds Ohren, gleich einem endlosen Gesang. Doch ohne Hoffnung hatte er auch keine Furcht. Selbst wenn er an Rosa dachte, was machte es schon, im Angesicht der Ahnen, was mit ihr geschah? Sie würde nur ein Oper mehr sein, in der Legion von Opfern durch die Jahrzehnte, die Jahrhunderte.
Ich habe es versucht, aber ich war nicht stark genug. Du siehst, Maya, es geht nicht nur um die Gute Welt und die Böse Welt. El Mundo de la Fuerza, die Realität der Gewalt ist stärker als all unsere Magie. Oh Lily, es war ein edler Versuch. Es ist schwer, so bewußt gegen das Böse anzukämpfen. Aber der menschliche Körper ist so verdammt verwundbar, er kann nicht gewinnen. Wir können nicht gewinnen.
Kapitel 36
Sie müssen etwas essen, Ma'am“, sagte der Soldat besorgt, während er den Teller mit Brot aufnahm. Maya hatte nichts davon
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