Das Fünfte Geheimnis
angerührt.
„Nein, junger Mann, das sehen Sie ganz falsch“, gab Maya zurück. „Ich bin neunundneunzig Jahre alt, ich muß gar nichts müssen. Gar nichts.“
„Wirklich?“ staunte der Soldat. Er sieht so jung aus, dachte Maya. Wahrscheinlich zogen sie sie mit fünfzehn, sechzehn ein, da unten im Süden.
„Wirklich, sind Sie wirklich neunundneunzig Jahre alt?“
Er hatte große runde Augen in einem bronzefarbenen Gesicht.
„Ich habe gerade Geburtstag gehabt, im Juni. Im Mondnebel-Monat, wie wir sagen. Nicht, daß wir in der Stimmung waren, kräftig zu feiern.“ „Vielleicht mögen Sie etwas Suppe? Ich bringe Ihnen eine“, bot der Soldat an. „Ich bin ein wilder Vogel. Ich esse nichts in Gefangenschaft“, gab Maya zurück.
„Wenn Sie nichts essen, sterben Sie, Ma'am.“
„Nenn mich doch Maya. Das ist mein Name. Und wie heißt du?“
„Hab' keinen. Den haben sie mir genommen, als ich zur Armee mußte.“ „Lächerlich. Niemand kann dir deinen Namen nehmen. Du hast bestimmt einen Namen, denk mal nach.“ Er warf einen schnellen Blick in die Runde, doch in dem dämmrigen Raum war niemand außer ihnen. Dann nickte er zögernd.
„Tom“, flüsterte er und warf noch einen Blick in die Runde, als könnte ihn jemand hören. „Tomàs, wie meine Mutter mich immer rief.“
„Tomàs, das ist ein schöner Name. Mucho gusto, Tomàs. Nett, dich kennenzulernen. Das war also dein Name, und nun hast du ihn wieder zurück. Du hast also auch eine Mutter? Wurdest du denn nicht für die Armee gezüchtet?“
Er schüttelte den Kopf. „Unsere Einheit, wir kommen alle von der Straße. Etwas Suppe, Ma'am, was meinen Sie?“
„Warum bist du so besorgt um mich?“
„Wenn Sie sterben, Ma'am, verhexen Sie mich.“
„Ich werde es mir überlegen, gelegentlich mal, aber warum hast du solche Angst davor?“
Er schauderte. „Kommen Sie mit hinaus zum Wachraum, Ma'am. Ich muß diesen Raum sauber machen.“
„Dann mußt du mich schon hintragen.“
„Wieso, sind Sie verletzt oder krank?“
„Nein, aber ich lehne jede Zusammenarbeit mit euch ab. Das ist unsere Abwehrtaktik.“
„Okay“, sagte Tomàs, „ich trage Sie...“ Und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „...Maya.“
Er stellte den Teller mit dem Brot ab. Er schob seine Hände unter ihren Körper, mit einem leichten Ruck hob er Maya hoch, hielt sie steif von sich, als hätte er Angst vor zuviel körperlichem Kontakt. Er trug Maya in die Vorhalle, wo eine Anzahl Soldaten herumsaßen. Sie hatten alle mehr oder weniger bronzefarbene Gesichter und dunkles glattes Haar. Jeder einzelne erinnerte Maya an Carlos, jenen Mann, der sie damals verführt hatte und der sie dann schwanger zurückgelassen hatte. Ihre Tochter Brigid, Birds Mutter. Einige der jungen Soldaten spielten gelangweilt Karten. Tomàs setzte Maya bei ihnen auf einen Sessel.
„Paßt auf sie auf“, sagte er zu den Kartenspielern, „ich muß ihre Zelle sauber machen.“
„Verpaß' ihr doch Handschellen“, brummte einer der Soldaten unwillig. Sein Körper war gedrungen und muskulös.
„Nein, das mach' ich nicht. Sie ist neunundneunzig Jahre alt.“
„Ist das ein Witz?“ Der Soldat drehte sich um und musterte Maya von Kopf bis Fuß.
„Auf meine Ehre als Hexe und ehemalige Pfadfinderin“, gab Maya zurück.
Wie auf Kommando rückten alle Soldaten etwas von ihr ab. Tomàs schnappte sich einen Eimer und Putzmittel und verschwand wortlos in Mayas Zelle.
„Willst du uns verhexen?“ fragte einer der Männer. Ihm fehlten einige Vorderzähne, und sein Zahnfleisch war fast schwarz.
„Nicht nötig“, sagte Maya sanft, „ihr seid längst verhext. Und ich würde euch gern erlösen.“
„Wer hat uns denn verhext?“, fragte nun der Mann, den Maya insgeheim Muskelmann nannte.
„Der General natürlich. Er hat den Bannspruch des Gehorsams über euch gelegt. Oder warum sonst seid ihr hier? Möchtet ihr alle so gern hier sein und aufs Töten warten? Während ihr doch alle mit uns an einem Tisch sitzen könntet. Denn wir City-Bewohner haben immer einen Platz für euch frei.“
„Wie meinst du das?“ fragte nun der Dritte, dem Maya bereits in Gedanken den Spitznamen Tiny verpaßt hatte. „Du meinst, wir sollen alle zu euch überlaufen und den Krieg für euch gewinnen? Und was dann? Dann sterben wir ohne unsere Booster.“
„Keine verdammten Booster mehr, Mann, die haben wir schon lange nicht mehr gekriegt, weil die Züge nicht durchkommen.“
„Wir sind kurz vor der Lösung des
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