Das Fünfte Geheimnis
du alte Hexe, jetzt wäre ein guter Augenblick, um göttliche Besessenheit vorzuführen und den General zu beeindrucken. Aber Maya fühlte sich nur alt und müde. Sie würde nicht für Bird bitten oder darum betteln, daß sie ihn sehen könnte. „Ich bin gekommen, das Schicksal meines Enkelsohnes zu teilen“, sagte sie.
„Das läßt sich machen.“ Der General winkte der Wache. „Sperrt sie ein. Aber laßt sie vorläufig in Ruhe. Ihr altes Herz könnt' stehenbleiben, und ich habe noch eine Sonderverwendung für sie.“
Maya setzte sich auf den Teppich. „Wir haben einen Platz für euch gedeckt an unserer Tafel, kommt, eßt mit uns gemeinsam“, sagte sie, während die Soldaten sie fortschleppten.
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Der Raum, in dem Maya gefangen gehalten wurde, war vorher ein Büro gewesen. Ein Schreibtisch stand noch hier, aber kein Bett, nicht einmal ein Sessel. So setzte sie sich schließlich auf die Tischplatte und ließ die Beine baumeln. Es gab keine Toilette, aber falls nötig, würde sie einfach eine der Schreibtischschubladen nehmen. Die Soldaten hatten ihr Wasser und ein Stück Brot gegeben, aber sie rührte beides nicht an. Nein, sie schloß lieber einfach die Augen und ließ ihren Gedanken die Zügel schießen. Sie fühlte sich Bird nun sehr nahe, sicher würde sie ihn nun erreichen können.
Aber sie erreichte Bird nicht. Dafür Johanna, die ihre Hände in die Hüften stemmte und Maya ärgerlich musterte. „Das ist schon eine mißliche Lage, in die du dich selbst gebracht hast“, sagte Johanna.
„Ich mußte es tun“, gab Maya zurück.
„Du mußtest überhaupt nichts. Du wolltest es. Die Göttin wird wissen, warum. Irgend ein alter jüdischer Schuldkomplex vermutlich.“
„Du kannst es also nicht erwarten, auf unsere Seite zu kommen“, meinte auch Rio, der hinter Johanna auftauchte.
„Schade, daß ihr damals beim Aufstand das City-Gefängnis abgerissen habt“, gab Maya zurück. „Sonst könnte ich jetzt wenigstens in einer richtigen Gefängniszelle sitzen, in der es eine Pritsche gäbe und eine Toilette.“
„Wenn du so auf Komfort versessen bist, warum bist du dann nicht zu Hause geblieben, wo du ein gutes Bett hast und Menschen, die sich um dich kümmern?“ fragte Rio.
„Bist du neidisch?“ fragte Maya lächelnd.
Rio lachte böse.
„Egal“, sagte Maya, nun doch zerknirscht, „du weißt, wie das ist. Wenn du eine heldenhafte Tat getan hast, fühlst du dich zuerst unverwundbar, glaubst, daß du nichts mehr zu essen oder zu trinken brauchst. Doch dann kommt die ernüchternde Wirklichkeit, und plötzlich sehnst du dich wieder nach deinem Bad und einem heißen Tee.“
Rios Züge wurden weicher. „Maya“, sagte er, „wir halten zu dir, was auch immer passiert.“
Plötzlich überkam Maya schreckliche Angst. Ja, ich habe Angst, gestand sie sich ein, aber ich war eine Weile imstande, mir einzubilden, ich hätte keine. Göttin, warum habe ich mich in diese Lage gebracht? Und was habe ich Bird damit angetan?
„Was ist passiert“, stöhnte sie, „was wird nun weiter geschehen?“
„Oh, du wirst sterben“, hörte sie Johanna antworten, „eventuell.“
„Aber jetzt noch nicht“, gab Maya zurück, „und was wird jetzt geschehen?“
„Jetzt schläfst du am besten ein wenig“, antwortete Johanna, „sieh zu, ob du dich auf dem Schreibtisch hinlegen kannst. Und laß dich nicht von deinem Komplex als Friedensapostel daran hindern, von dem Wasser zu trinken und das Brot zu essen.“
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„Was soll das heißen, wohin sie gegangen ist?“ fragte Sam. „Wohin ist sie gegangen?“ Plötzlich sah man ihm jedes seiner achtzig Lebensjahre an. Sein Gesicht sah zerknittert und übermüdet aus, mit zitternden Händen packte er Madrone an der Schulter.
„Sie hat uns Briefe dagelassen“, gab Madrone zurück und versuchte ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. „Ich glaube, sie ist schon am frühen Morgen gegangen, während ich bei Lily war und du noch geschlafen hast.“
„Aber das ist jetzt schon viele Stunden her“, protestierte Sam, „wieso habe ich ihr Verschwinden nicht früher bemerkt.“
Sie debattierten erregt in der Küche, während Mary Ellen scheinbar ungerührt fortfuhr, Gemüse zu putzen.
„Ich hab's auch nicht bemerkt“, sagte Madrone. „Ich kam todmüde nach Hause und bin sofort schlafen gegangen. Es waren Dutzende von Leuten hier, aber ich habe nicht gemerkt, daß sie fehlte. Erst als ich sie zum Essen holen wollte, sah ich die Zettel.“
„Zeig
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