Das Fünfte Geheimnis
Schicksal ist, alle Sünder dieser Welt zu bestrafen!“
Obwohl der General viel größer war als Maya, schienen ihre Augen plötzlich auf gleicher Höhe zu sein. Eine kalte harte Stimme sprach aus ihrem Mund und wischte alle Argumente des Generals beiseite.
„Dein Schicksal liegt in dir selbst begründet. In deinem Blut, in deinen Gebeinen, wie bei jedem Menschen. Dein Schicksal ist hier, vor deinen Augen. Ich stehe vor dir!“
„Wer bist du?“ fragte der General noch einmal.
„Ich bin das Schicksal, dem du nicht entkommen kannst. Ich bin das Grau deiner Haare, ich bin die Schicksalslinie deiner Hand. Ich bin der Tod, die Rache, die Konsequenz dessen, was du getan hast in deinem Leben. Halte nur fest an deinen Hoffnungen, ich werden deinen Griff schon lösen.“
Sie war das Sprachrohr eines unbekannten Wesens. So wie das Wasser in den Flüssen von ganz woanders kommt, von weit her.
„Ich bin das Schicksal. Ich bin deine letzte Chance. Ich sehe, wer du bist und wer du sein könntest. Ich sehe deine Vorfahren um dich herum versammelt. Einer von ihnen ist ein kleiner Junge, der zusah, wie Folterknechte seiner Mutter auf dem Marktplatz die Kleider vom Leib rissen, um Spuren des Teufels zu finden. Der sah, wie sie den Leib seiner Mutter mit glühenden Eisen brandmarkten, sie vergewaltigten und bei lebendigem Leibe verbrannten. Ja, ich sehe die Augen des kleinen Jungen, während er zusah, wie der Körper, der ihn gewiegt hatte, verbrannte, verkohlte, wie die Hände, die ihn gestreichelt hatten, zu Asche zerfielen. Ich sehe, wie der Schmerz in dem Jungen eine Waffe wurde, eine Waffe gegen die Welt um ihn herum, bis sie zu seinem zweiten Selbst wurde.“
Maya machte eine winzige Pause. „Und nun ist der Junge ein erwachsener Mann, weit weg von hier, in Afrika. Er ist nun auf GorÇe. Kennst du den Namen? Eine Insel, die auch die letzte Tür genannt wurde. Eine Insel, über die alle Sklaven von Afrika nach Amerika verschifft worden sind. Und hier ist er, dein Vorvater, in der Folterkammer, wo er eine junge, schwarze Frau gewaltsam zu seiner Lust zwingt, während ihr eigener kleiner Junge zusehen muß. Vielleicht ließ er seinen Samen in ihr. Den Samen des Schmerzes und des Hasses, der nun in ihrem Bauch wachsen konnte. Der Same, der dann durch die Hölle der Geburt gekrönt wurde. Das waren deine Vorfahren, und wer waren dann meine? Und die Frau ist trotzdem fähig, dieses Kind der Gewalt zu lieben, wie Frauen ihre Kinder lieben. Weil sie eben verstehen, daß das, was in ihnen gewachsen und aus ihnen geboren wurde, unschuldig ist und auch ein Teil ihrer selbst. Oh, es ist unglaublich, was Menschen einander antun können und es trotzdem überleben. So viele Frauen empfangen den Samen des Schmerzes, bringen das Kind trotzdem zur Welt, und dieses Kind des Hasses gibt seinen Haß womöglich weiter an einen anderen Frauenkörper. Und so bleibt nur die Hoffnung, daß einmal, irgendwann und irgendwie diese Kette aus Schmerz und Hass durchbrochen wird. Vielleicht weigert sich jemand, den Haß immer nur weiterzugeben. Wer weiß? Vielleicht bist du dieser Jemand?“
Der General stand wie erstarrt. „Schmerzen machen den Mann zum Mann“, stieß er schließlich hervor.
„Oder sie zerbrechen ihn.“
„Ein Mann muß einmal zerbrochen sein, bevor er wirklich ein Mann wird“, murmelte der General halblaut. Dann gab er sich einen Ruck: „Wer bist du?“ fragte er zum dritten Mal.
Maya holte tief Luft. Sie spürte, wie sie sich zurückverwandelte. Der Tod wich aus ihren Augen, sie wurde wieder zur alten, müden Frau. Trotzdem hob sie ihre Stimme: „Maya Greenwood.“
„Aha, die Schriftstellerin.“
„Das hätte ich nicht gedacht, daß man meinen Namen in den Southlands immer noch kennt.“
„Oh, ich hatte das Vergnügen, einige Dutzend deiner Bücher zu verbrennen.“
„Ach, ein Fan von mir“, gab Maya zurück, „ich bin gerührt.“
„Du fängst an, mich zu interessieren“, sagte der General, „was meinst du, was du hier bei mir erreichen kannst? Glaubst du, daß du mich durch deine rührseligen Geschichten gewinnen kannst? Von Maya Greenwood hätte ich mehr erwartet.“
„Ich bin gekommen, dich zu warnen“, sagte Maya langsam und merkte, wie ihre Stimme anfing zu zittern. Die Stimme einer alten, kranken Frau, dachte sie. Doch sie fuhr tapfer fort: „Du kannst hier nichts gewinnen.“
Der General lachte. „Dein Enkelsohn würde dir nicht zustimmen. Er glaubt, wir können nicht verlieren.“
Jetzt,
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