Das Fünfte Geheimnis
ihres Friedens. Die Besorgnis und die Angst der alten Frau explodierten wie Feuerwerkskörper um sie herum, regneten auf sie herab in farbigen Sternen. Madrone betrachtete die farbigen Lichter mit geteilter Faszination. Es war so überflüssig, wenn Maya das bloß verstehen würde.
»Setz dich«, sagte Maya, »Zeit, etwas zu essen.«
Madrone wollte eigentlich nichts essen, Nahrung entfernte sie nur von ihren Mustern. Aber Mayas Entschlossenheit war unerbittlich. Streiten würde sie noch mehr ablenken, und während sie abgelenkt war, würden Leute sterben. Vielleicht wäre das gar nicht so schlimm, aber nun hatte sie doch das Messer, um den Tod abzuwehren. Sie konnte es nicht weglegen. Helles Sonnenlicht strömte durch das große Erkerfenster. Nita hatte Kristalle vor das Glas gehängt, und das Sonnenlicht ließ Regenbogen durch das Zimmer tanzen. Regenbogen aus Licht, wie in der Welt der Vernetzung, und wenn Madrone die Augen schloß, konnte sie sie trotzdem sehen. Sich von ihnen ernähren. Sie waren besser als Brot.
Maya öffnete ein Fenster und hängte eine Karte an einer Schnur hinaus.
»Was soll das?« Sprechen bedeutete eine große Anstrengung. Madrone konnte ihre Worte sehen, so wie sie ihren Atem an einem kalten Tag sehen konnte. Sie woben ein farbiges Muster und lösten sich auf.
»Ein Zeichen, um deinen unveränderten Zustand mitzuteilen. Ganz so, als wärest du die Königin von England. Es erspart mir, die Treppen fünfmal am Tag rauf und runter zu laufen.«
»Tut mir leid«, wisperte Madrone. Sie bedauerte, daß Maya nicht verstehen konnte, daß es keinen Anlaß zur Sorge gab. Sie bedauerte, daß die Farben um Mayas Körper so störend waren, daß sie sich die alte Frau aus dem Zimmer wünschte.
»Schön wärs«, schnaubte Maya, »aber es tut dir nicht leid. Wenn es so wäre, würdest du dich aus diesem semiastralen Zustand befreien, Nahrung zu dir nehmen und aufhören damit, was auch immer du gerade tun magst. Du würdest mich einlassen. Du würdest zurück zu menschlicher Form finden.«
»Ich tue gar nichts.«
»Du lügst. Ich kann zwar nicht erkennen, was es ist, aber ich sehe, daß du etwas tust. Die halbe Stadt will dich heilig sprechen lassen. Sie legen Opfergaben auf die Treppe vorm Haus und brennen Kerzen ab. Kranke Frauen behaupten, von dir zu träumen und geheilt aufzuwachen. Mütter, die vor der Geburt stehen, sehen dein Gesicht und ihre Gebärmutter öffnet sich. All das, während du hier liegst und dich verleugnest wie selbst Königin Victoria es nicht besser hätte tun können.«
»Ich habe lediglich ... Gespräche. Wirklich es geht mir gut.”
»Wenn du das noch ein einziges Mal zu mir sagst, werde ich dir persönlich die Kehle durchschneiden.«
Madrone schloß erneut die Augen. Sie wünschte, Maya würde endlich gehen und sie allein lassen. Vielleicht, wenn sie wieder einschliefe...
»Du wirst jetzt nicht schlafen, junge Frau. Ich rede mit dir. Und außerdem mußt du etwas essen.«
»Ich bin nicht hungrig.«
»Zum Teufel, iß endlich deine Suppe.«
Aber so will ich doch gar nicht mit ihr umgehen, dachte Maya. Sie schwindet dahin, stirbt womöglich, und ich kann sie nicht erreichen, weder mit meinem Zorn noch mit meiner Liebe. Madrone gehorchte und aß die Suppe mit grimmigem Schweigen.
Nahrung war ein Anker, der sie wieder an das Leben kettete. Nur leicht und auch nur für kurze Zeit. Die Energie, die die Suppe ihr verschaffte, war ein Muster, so wie Hunger ein Muster war, wie jede Krankheit ein Muster war, so wie Leben und Tod es waren. Und alles, jedes für sich, war wunderbar und vollendet, und es bedeutete einen enormen Kraftaufwand, sich für eines zu entscheiden. Sie besaß diese Kraft, aber sie ließ nach. Und wahrscheinlich war das in Ordnung.
»Es ist okay, zu sterben«, sagte sie zu Maya, während sie den Löffel hinlegte. Sie sagte dies, um das Feuerwerk namens Maya zu stoppen, aber das Gegenteil trat ein, es wirbelte und explodierte um sie herum.
Das ist mein Karma, mein Schicksal, dachte Maya. Ich hätte freundlicher sein sollen zu meiner eigenen Mutter, hätte verstehen sollen, warum sie nicht wollte, daß ich Drogen nahm und mit fremden Männern schlief.
»Nein«, sagte Maya und brach in Tränen aus. Es waren dicke Tränen, gefüllt mit Licht, die aus ihren Augen tropften. »Bitte, iß etwas. Noch einen Bissen.”
Maya beugte sich vor und ergriff Madrones Hand. Ihre Hand war kalt, fühlte sich wie eine von diesen flexiblen Eiskompressen an, die im
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