Das Fünfte Geheimnis
sie ist sie nur ein Basis-Lager. Der Ausgangspunkt für die Höhen, die sie anstreben. Und es ist ihr Zuhause, ist alles was sie kennen. Sie können nicht über eine Zerstörung philosophieren, sie werfen sich selbst vor die rollende Lawine. Was, denkst du, tut Madrone. Wie sonst wirst du Bird gerecht?«
»Sie sind Bewahrer«, sagte Johanna, »sie haben etwas Schützens-wertes. Wir waren arroganter. Wir wollten die Welt neu erschaffen, so wie es unserer Vision entsprach.«
»Und wir taten es«, sagte Rio, »zum Teil.«
»Das ist wie eine teilweise erfolgreiche Schwangerschaft«, sagte Maya.
»Hör auf zu lamentieren, Freundin«, sagte Johanna. »Bring' mir Tee und hör' auf, dich zu bemitleiden.«
Maya tat getrocknete Pfefferminzblätter in den chinesischen Topf, den sie vor 50 Jahren in der Grant Avenue gekauft hatte. Er war gelb und ein Drachen zog sich um die Außenseite. Sie stellte Tassen vor ihre Schattenfreunde.
»Dies ist ein früher Besuch«, sagte Maya.
»Es ist noch nicht mal die Zeit des Regens.«
»Madrone ist gefangen zwischen den Welten«, sagte Rio. »Deshalb haben wir es gewagt. Du schienst einsam zu sein.«
»Ich bin einsam. Warum nicht. Ihr seid tot. Madrone ist halb bewußtlos. Alle anderen sind fort.«
»Ach, spiel noch das Klagelied«, sagte Johanna. »Warum kümmerst du dich nicht um meine Enkeltochter, holst sie zurück von der Klippe?«
»Wie soll ich das tun?«
»Du mußt doch irgendetwas gelernt haben in deinem überlangen Leben, das ihr helfen kann, zu wählen.«
»Was zu wählen?«
»Zu leben oder zu sterben.«
Maya stellte ein Tablett für Madrone zusammen. Sie füllte Suppe in eine japanische Porzellanschale. Dazu legte sie Butter und Toast und eine Serviette. Eine Rose aus dem Garten stellte sie in die kleine Vase aus Limoges, die sie viele Jahre zuvor auf einer Reise nach Frankreich gekauft hatte. Vieleicht vermochten diese kleinen Annehmlichkeiten des Lebens Madrone zu locken. Oder vielleicht konnten es Prinz Charles und Lady Di, deren Gesichter feierlich von der Oberfläche des Tabletts starrten.
Madrone lag in Nitas großem Himmelbett. Sie hatten sie nach unten verlegt, auf dieselbe Etage, wo die Küche war, damit Maya nicht die vielen Stufen steigen mußte. Maya setzte das Tablett ab, das sie vorsichtig balanciert hatte. Madrones Augen waren geschlossen, sie schlief oder sie stellte sich schlafend. Wo ist sie gerade? Maya wunderte sich. Was gab es doch für merkwürdige Dimensionen zwischen den Welten. Sie sieht so klein aus, wie eine Ameise, die eine viel zu schwere Last trägt. Gerne würde ich diese Last mit ihr teilen, dachte Maya, aber ich kann es nicht. Zum einen würde sie es nicht zulassen. Zum anderen ist sie längst über das Alter hinaus, wo sie Lasten an Ältere abgeben kann. Ich selbst bin ein Teil ihrer Last und plötzlich wünschte Maya, sie wäre leicht, eine Hülle ihrer selbst, leicht zu tragen.
Oder vielleicht bin ich schon zu viel Hülle, nur noch Muschel, kein Fleisch. Vielleicht kann ich sie deshalb nicht erreichen. Ich bin eine Karrikatur meiner selbst, alt und miesepetrig, kaum amüsant. Ich bemuttere sie und liege ihr in den Ohren. Das ist auch eine Rolle, eine weitere Maske, die wir alle tragen, eine Haltung, die wir einnehmen, wenn wir unsere Ziele setzen und uns dorthin arbeiten, bloß, um der harten Realität nicht ins Auge schauen zu müssen und nicht zu sehen, wie das Rad des Universums sich dreht. All das ist mir bewußt, auch wenn ich es scheinbar nicht zu ändern vermag. Ich wußte es schon mit 17, auf einem der zu vielen LSD-Trips der 60er. Viel zu jung, ich wäre durchgedreht, wenn Johanna nicht in den Umkleideraum gekommen wäre und ihre Hände um meine nackten Brüste gelegt und mich so gerettet hätte. Berührung. Sie hat mein Herz berührt. Wie nur kann ich dieses Gefühl Madrone zukommen lassen?
✳✳✳
Madrone öffnete ihre Augen und starrte auf den Baldachin, bestickt mit Monden und Sternen. Ein tanzendes Muster, ein Netzwerk aus Licht in unbeschreiblichen Farben, das mit dem Kristall-Spinnennetz hinter ihren Augen verschwamm. Sie wollte dort bleiben, wo Schmerzen, Schwäche und Gefühle nur Knoten im Kaleidoskop des Lichts waren. Ihre Arbeit war jetzt hier, auf dieser Ebene. Das geistige Messer in ihrer Hand ermöglicht ihr die Muster zu verändern, neu zu mischen, so daß sie neue Formen annehmen konnten. Das Leben zu verändern, das Schicksal zu wenden. Ganz einfach. Sie empfand Mayas Anwesenheit als Störung
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