Das Fünfte Geheimnis
Erinnerungen?«
Er nickte.
»Tut mir leid, daß dich meine Worte verletzt haben«, flüsterte Madrone.
»Nicht dein Fehler«, sagte er und küßte ihre Augen, »und im übrigen habe ich keine Lust, darüber zu sprechen.«
»Okay, Bird.«
Er drückte sie für einen Moment zärtlich und fest an sich. Ja, sie war ihm Schutz und Schirm gegen die schrecklichen Schmerzen, die ihn immer wieder durchfluteten. Nicht nur die Erinnerungen, sondern sein ganzer Körper schmerzte ihn. Er hätte sich am liebsten übergeben. Doch er verdrängte den Brechreiz.
Madrone spürte, wie es ihn schüttelte.
»Du bist okay«, murmelte sie in sein Ohr, »estas bien. Estas aqui, conmigo y con Maya. Estas seguro.«
Sie fuhr fort, beruhigende Worte auf Spanisch zu murmeln, während Birds Zittern langsam verebbte. Spanisch hatte immer eine wohltuende Wirkung auf sein Gemüt, das wußte Madrone. Sie konnte ihn nicht gegen die Schmerzen schützen, auch nicht vor seinen peinigenden Erinnerungen, aber sie konnte ihm helfen, die quälende Augenblicke zu überstehen.
»Schwer zu glauben«, hörten sie nun Maya, »daß dies wirklich der Platz ist, wo ich Rio das erste Mal traf. Seht ihr die Felsen dort am Seeufer? Es war mein erster Tag in San Francisco, an dem Tag als ich von zu Hause fortlief. Es war der Anfang von dem, was wir eine Sommerliebe nennen. Achtzig Jahre ist das nun her. Ich bin per Autostop von Los Angeles hierher gekommen. Ich habe die Nacht unter einem Gebüsch zugebracht, von Käfern und Ameisen fast aufgefressen.« Maya zog eine Grimasse. »Ich spüre das Kribbeln heute noch, wenn ich nur daran denke. Das erste, was ich am frühen Morgen hörte, war die Trommel von irgendwelchen Blumenkindern. Sie tanzten und trommelten schon am frühen Morgen und rauchten dazu qualmende Marihuana-Zigaretten. Ich fühlte mich eingeschüchtert. Ich hatte Angst, sie würden merken, daß ich nicht so cool war, wie ich mir den Anschein gab. Deshalb ging ich zum Seeufer und versuchte mir einzureden, daß ich auf der Suche nach mir selbst sei. Kein Grund, sich einsam und allein zu fühlen. Rio ruderte mit einem gestohlen Boot zu mir und nahm mich mit. Eine Viertelstunde später lagen wir schon nackt auf dem Gras und liebten uns – stundenlang, wie es mir heute noch vorkommt.« Sie zeigte auf einen großen alten Baum: »Kann sein, es war genau unter diesem Baum.«
»Ja, er hat immer schnell begriffen, old Tio Rio«, meinte Bird und schmunzelte.
»In diesen Tagen damals, kam man schnell zur Sache. Als es vorbei war, blickte er mich an und bat: Laß uns den Rest des Lebens zusammen verbringen. Wie heißt du?«
»Wie romantisch!«, lächelte Madrone.
»Meinst du das ernst?«»
»Nun, so halb und halb.«
»Die Sache ist, daß wir es wirklich taten. Wir verbrachten tatsächlich den Rest unseres Lebens zusammen, ausgenommen einige Jahre hier und dort. Schon komisch, wie lang uns diese Jahre früher vorkamen, und wie kurz jetzt, in der Erinnerung. Habt ihr euch nun ausgeruht? Dann laßt uns weiterlaufen.«
Auf der Spitze des Hügels weitete sich der schmale Pfad zu einer großen Grasfläche. Ein Teich schimmerte vor ihnen, und in der Nähe leuchteten einige Kuppelgebäude in der Abendsonne. Bäume und Gebüsch soweit das Auge reichte. Vor dem Eingang eines der Gebäude stand eine Bank auf dem Gras vor einem steinernen Tisch.
Dahinter öffnete sich eine Tür, und eine Frau kam heraus. Sie hatte ein Gesicht wie Maya, ihr silbernes Haar war zu einem Knoten im Nacken zusammengefaßt. Mandelförmige Augen und fein geschwungene Brauen verliehen ihr etwas Exotisches. Ihre silberfarbene Tunika war lavendelfarben abgesetzt, darunter trug sie schwarze Hosen.
»Lily!«, rief Maya aus, »Lily Fong – wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?«
»Erst vor kurzem«, lächelte Lily und griff nach Mayas ausgestreckter Hand, »ich habe dich erst vor einem Monat oder zwei gesehen, beim Erntefest. Du hast eine so wunderbare Geschichte erzählt.«
»Warum bist du nicht zu mir gekommen?«, wunderte sich Maya, »wir hätten uns alle gefreut.«
»Genau deshalb habe ich mich zurückgehalten, Liebes«, gab Lily zurück, »du hast so viel zu tun gehabt.«
»Erzähl mir von dir«, sagte Maya.
Lily lächelte: »Warum kommt ihr nicht mal zu den Versammlungen des Verteidigungs-Council?«
»Oh, ich habe von solchen Meetings genug«, wehrte Maya ab, »es stört meine Konzentration. Dies ist Madrone, du kennst sie. Und dies ist mein Enkelsohn Bird. Wir müssen eigentlich
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