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Das fuenfte Imperium

Titel: Das fuenfte Imperium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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raustragen lassen ... Nein, es lässt sich nicht ganz verhindern, dass ab und zu etwas durchsickert. Was wir tun können, ist, die Informationen krass zu verfälschen. Dabei hilft, dass die Menschen eine sehr wirklichkeitsfremde Vorstellung von uns haben. Sie glauben in einen Abgrund zu sehen und gruseln sich wohlig. Der Witz ist, dass unser Abgrund im Vergleich zu dem, in den die Menschheit sich gerade fallen lässt, ein seichtes Loch ist...«
    Die Schlucht vor Augen, die sich während des Großen Sündenfalls unter mir aufgetan hatte, wurde ich nachdenklich. Welcher Abgrund tiefer war, lohnte zu fragen: der Heartland-
    Schacht, in den hinabzugleiten ich eben erst begann, oder das glühende Auge des Supermarktes, in dem ich einst gearbeitet hatte? Und ach, den Supermarkt durfte ich vergessen: Jede Entscheidung, die ein junger Mensch in seinem Leben trifft, ist eine Höhle, die ins Dunkle führt, in die Unterwelt. Höchstens das Gefälle des Gangs, durch den man stolpert, unterscheidet sich von Fall zu Fall. Recht besehen, sind es nicht die Vampire, die kopfunter hängen, sondern die Menschen - nur dass Oben und Unten bei ihnen anders benannt ist.
    »Chaldäer ...«, murmelte ich vor mich hin, »irgendwas war damit. Wir hatten es im Diskurs. Sind das nicht die Babylonier? Und meines Wissens heißt ein Esoterik-Shop auch so.«
    »Davon weiß ich nichts. Aber mit den Babyloniern liegst du richtig. Die Chaldäische Gesellschaft entstand im alten Babylon und trägt seither diesen Namen. In heutiger Form gibt es sie seit den Zeiten des Neubabylonischen Reiches, als die Chaldäer-Dynastie in der Stadt das Sagen hatte. In dieser Tradition des Vorderen Orients ist übrigens das erste Mal vom Baum des Lebens die Rede.«
    »Baum des Lebens? Was soll das sein?«
    »Das ist die Wohnstatt der Großen Göttin. Die Religionen sind uneins darüber, wo genau sie eigentlich wohnt - im Stamm oder im Geäst. Jedenfalls hat jedes Land solch einen Baum.«
    »Ach so? Und woher importiert?«
    »Gar nicht importiert. Eine Nation mitsamt ihrer Sprache und ihrer Kultur bildet sich dort, wo ein solcher Baum vorhanden ist. Um ihn herum, könnte man sagen. Andererseits ist es auch nicht falsch zu sagen, es wäre immer derselbe Baum. Sie hängen zusammen«
    »Und wer ist die Große Göttin?«
    Mitra lachte.
    »Das erfährst du heute Abend«, sagte er. »Du wirst beeindruckt sein, das kann ich dir versprechen.«
    Ich versuchte, meine aufkommende Unruhe zu bezwingen.
    »Was ich immer noch nicht verstehe«, sagte ich, »wieso dieser Geheimbund von Leuten, die alle sozialen Fahrstühle kontrollieren, sich von den Vampiren einspannen lässt. Wieso arbeiten die nicht im eigenen Auftrag?«
    »Das sagte ich doch: Wir lesen ihre Gedanken.«
    »Na und? Eine Bartholomäusnacht genügte, und das Lesen würde eingestellt. Wenn die Chaldäer solche großen Tiere sind, dass sie den ganzen Laden mitsamt Atomknöpfen und Finanzhebeln beherrschen, warum müssen sie dann noch zu Kreuze kriechen? Die Menschen sind heutzutage sehr pragmatisch eingestellt. Und je höher sie steigen in ihren Fahrstühlen, desto pragmatischer werden sie. Respekt vor der Tradition ist keine ernst zu nehmende Motivation mehr.«
    Mitra seufzte.
    »Du schätzt das alles ganz richtig ein. Aber die Gründe, weshalb die Oberschicht den Lebensbaum hegt und pflegt, sind durchaus pragmatischer Natur.«
    »Nämlich?«
    »Pragmatismus bedeutet zielorientiertes Handeln. Wo kein Ziel vorhanden ist, kann von Pragmatismus keine Rede sein. Und ein Ziel haben die Menschen nur vor Augen, weil sie den Lebensbaum haben.«
    »Wie hängt das zusammen?«
    »Das wird dir Enlil Maratowitsch erzählen.«
    »Hm ... Vielleicht kannst du mir wenigstens verraten, was es mit diesem Bablos auf sich hat?«
    Mitra setzte eine Leidensmiene auf.
    »Auf zu Enlil!«, brüllte er und fuchtelte mit den Händen, als gälte es, einen Schwarm Fledermäuse zu verscheuchen.
    Der Fahrer schielte nach hinten. Offenbar war durch die
    Trennwand etwas zu ihm gedrungen, oder er hatte die Bewegung wahrgenommen. Ich sah zum Fenster hinaus.
    Jenseits der Böschung reihten sich die achtzehngeschossigen Plattenbauten der Schlafstädte - Bauwerke letzter Hand aus der Sowjetzeit. Ganz am Ende dieser Ära war ich auf die Welt gekommen. Zu klein, um zu begreifen, was da vor sich ging; doch Klänge und Farben jener Zeit hatte ich gespeichert. Erst hatte die Sowjetmacht diese Häuser errichtet, Menschen hineingestopft, und war dann kurz darauf einen

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