Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das fuenfte Imperium

Titel: Das fuenfte Imperium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
Vom Netzwerk:
erkennen. In der Mitte war, über eine flüchtig markierte Horizontlinie ragend, ein Baum mit großen runden Früchten dargestellt. Letztere glichen bewimperten Augen oder Äpfeln mit Zähnen. Zu beiden Seiten gab es Figuren: einen Wolf auf der einen Seite, eine Frau mit einem Pokal auf der anderen. Die Ränder der Platte zierten Fabelwesen, von denen eines sehr an das Flugbild eines Vampirs erinnerte. Der Raum zwischen den Bildern war mit Keilschrift gefüllt.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    »Eine Illustration zum Gilgamesch-Epos. Dort ist vom Baum des Lebens die Rede. Das ist er.«
    »Und was hat die Frau in ihrem Pokal? Etwa Bablos?«
    »Oho«, sagte Enlil Maratowitsch. »Davon weißt du also auch schon?«
    »Flüchtig. Ein Getränk, das aus Geld gemacht wird, das ist alles,was ich weiß.«
    Enlil Maratowitsch nickte. Vertiefen mochte er das Thema anscheinend nicht.
    »Ist das da ein Vampir?«, fragte ich, auf das Flügeltier in der Ecke deutend.
    »Ja. Dieses Relief ist ein Heiligtum der Chaldäischen Gesellschaft. Annähernd viertausend Jahre alt. Es gab eine Zeit, da hing in jedem Tempel so eines.«
    »Gibt es denn heute noch Chaldäertempel?«
    »Ja.«
    »Wo?«
    »Jeder Ort, an dem ein solches Relief aufgestellt ist, wird zum Tempel. Du musst bedenken, dass es für die Mitglieder der Gesellschaft, die gleich hereinkommen werden, ein ziemlich bewegender Moment ist: Sie begegnen ihren Göttern ... Da sind sie.«
    Die Türen öffneten sich, und merkwürdig aussehende Menschen betraten den Saal. Sie trugen vielfarbige Gewänder, die sichtlich nicht in unsere Zeit gehörten, eher gemahnten sie an die Tracht der alten Perser. Doch nicht diese extravaganten Kleidungsstücke waren das Frappierende (mit etwas Wohlwollen hätten sie als Bademäntel durchgehen können, ein wenig zu lang und zu bunt vielleicht), sondern die goldglänzenden Masken vor ihren Gesichtern. An den Gürteln hatten sie Metallgegenstände hängen, die auf den ersten Blick an alte Bratpfannen denken ließen, doch dafür glänzten sie zu sehr - bald begriff ich, dass es altertümliche Spiegel waren.
    Die Eintretenden hielten die Köpfe gesenkt.
    Eine Filmszene fiel mir ein aus Aliens vs. Predator , ich hatte sie mindestens zwanzig Mal gesehen: Einer dieser außerirdischen Jäger stand auf der Spitze der alten Pyramide und ließ sich von einer Priesterprozession hofieren, die über eine endlose Treppe zu ihm hinaufstieg. Für meine Begriffe eines der schönsten Bilder, die die amerikanische Filmgeschichte zu bieten hat. Hätte ich geahnt, mich einmal in einer vergleichbaren Rolle wiederzufinden!
    Mir rieselte es kalt über den Rücken. War ich womöglich im Begriff, ein uraltes Tabu zu verletzen und kraft meines Denkens eine neue Realität zu erschaffen? Mich zum Gott aufzuschwingen? ... Die einzige Verfehlung übrigens, auf die der Ausdruck Großer Sündenfall wirklich gepasst hätte.
    Doch das Schwindelgefühl hielt nur für einen kurzen Augenblick an. Die maskierten Männer traten vor die Bühne, klatschten höflich Beifall. Das hätten die Priester am Gipfel der Pyramide gewiss nicht getan. Ich kriegte mich ein: kein Grund zur Panik. Von der eigentümlichen Tracht der Ankömmlinge abgesehen, glich das Ganze doch eher einer Business-Präsentation.
    Enlil Maratowitsch hob die Hand, augenblicklich wurde es still.
    »Der heutige Tag«, so begann er, »ist für uns traurig und froh zugleich. Traurig insofern, als Brahma nicht mehr unter uns ist. Froh ist dieser Tag, weil wir Brahma nichtsdestoweniger bei uns haben - nur dass er jetzt Rama heißt. Jünger und hübscher denn je! Ich darf Ihnen vorstellen, meine lieben Freunde: Rama der Zweite!«
    Noch einmal zollten die Maskenmänner höflichen Beifall. Enlil Maratowitsch wandte sich nach mir um, bat mich mit einer Geste zum Mikrofon.
    Ich hüstelte und versuchte mir vorzustellen, was ich sagen würde. Allzu ernst durfte es offenbar nicht ausfallen. Aber auch nicht gar zu frivol. Ich beschloss, mich an Enlil Maratowitschs Tonfall zu halten.
    »Freunde!«, sprach ich. »Ich sehe euch heute zum ersten Mal. Bin euch aber doch schon unzählbar viele Male begegnet. Das ist das Mysterium, welches uns seit Urzeiten verbindet. Und ich freue mich von Herzen, dass es wieder einmal so weit ist... Vielleicht nicht ganz passend, kam mir da eben ein kinematographisches Zitat in den Sinn ...«
    Hier erst wurde mir schlagartig bewusst, wie hoffärtig und ehrenrührig es wirken musste, wenn ich von der Szene in Alien

Weitere Kostenlose Bücher