Das fünfte Zeichen
schwankte in den warmen Sommerabend hinaus. Das dritte Taxi, das er auf dem Ullevålsvei anhielt, nahm ihn mit.
» Holmenkollvei «, sagte er und lehnte den verschwitzten Nacken an das kühle Leder des Rücksitzes. Während der Fahrt starrte er durch die Heckscheibe zu den Schwalben empor, die auf der Jagd nach Nahrung am blauen Himmel hin und her schossen. Jetzt kamen die Insekten aus ihren Löchern. Das war die Stunde der Schwalben, ihre Chance zu überleben. Von jetzt bis Sonnenuntergang.
D as Taxi hielt am Hang unterhalb einer großen, dunklen Holzvilla.
» Soll ich auf den Vorplatz fahren? «, fragte der Fahrer.
» Nein, lassen Sie uns einfach einen Moment hier stehen bleiben «, sagte Harry.
Er starrte zum Haus hoch. Glaubte Rakels Schatten an einem der Fenster zu erkennen. Oleg musste sicher bald ins Bett. Vermutlich bettelte er gerade darum, länger aufbleiben zu dürfen …
» Heute ist doch Freitag, oder? «
Der Taxifahrer nickte langsam und blickte fragend in den Rückspiegel.
Tage. Wochen. Mein Gott, wie schnell diese Kinder wuchsen.
Harry rieb sich das Gesicht, versuchte wieder ein wenig Leben in die herbstblasse Totenmaske zu massieren, mit der er heru m lief.
Im Winter hatte es gar nicht so schlecht für ihn ausgesehen.
Er hatte ein paar größere Fälle gelöst, er hatte einen Zeugen im Fall » Ellen «, er war trocken, und er und Rakel waren nicht mehr frisch verliebt, sondern hatten begonnen, sich als Familie zu fühlen. Und es hatte ihm gefallen. Die Wochenenden auf der Hütte. Die Kinderfeste. Mit Harry als Chef am Grill. Es hatte ihm gefallen, seinen Vater und Søs am Sonntag zum Essen dazuhaben und zu beobachten, wie seine Schwester mit ihrem Down-Syndrom und der neunjährige Oleg miteinander spielten. Und das Beste: Sie waren noch immer ineinander verliebt. Rakel hatte sogar davon gesprochen, in ihrem Haus zusammenzuzi e hen. Ihr Argument war, dass das Haus für sie und Oleg allein doch zu groß sei. Und Harry hatte sich nicht gerade bemüht, etwas dagegen einzuwenden.
» Mal sehen, wenn ich mit der Untersuchung von Ellens Tod fertig bin «, hatte er gesagt.
Die gebuchte Reise in die Normandie –drei Wochen in einem alten Herrenhaus und eine Woche auf einem Hausboot –sollte eine Art Test werden.
Und dann hatten die Dinge begonnen, schief zu laufen.
Er hatte den ganzen Winter den Mord an Ellen verfolgt. Inte n siv. Zu intensiv. Doch Harry kannte keine andere Art zu arbeiten. Und Ellen Gjelten war nicht nur eine Kollegin gew e sen, sondern seine beste Freundin und Vertraute. Inzwischen waren drei Jahre vergangen, seit sie zu zweit den Waffe n schmuggler mit dem Codenamen » Prinz « gejagt hatten und ein Baseballschläger ihr das Leben genommen hatte. Die Spuren am Tatort, dem Ufer des Akerselva, hatten auf Sverre Olsen hingedeutet, einen alten Bekannten aus dem Neonazimilieu. Leider hatte Harry sich nie dessen Version der Angelegenheit anhören können, da Olsen bei dem angeblichen Versuch, Tom Waaler bei der Festnahme zu erschießen, eine Kugel in den Kopf bekommen hatte. Allerdings war Harry sowieso überzeugt, dass eigentlich der » Prinz « h inter diesem Mord steckte, und er hatte Møller überredet, ihn auf eigene Faust Nachforschungen anstellen zu lassen. In eigener Sache. Was gegen alle im Morddezernat geltenden Prinzipien verstieß. Doch Møller hatte ihm das als Belohnung für gute Ergebnisse in anderen Fällen eine Weile zugestanden.
Und im Winter war Harry endlich der Durchbruch gelungen. Ein Zeuge hatte Sverre Olsen am Tatabend in Grünerløkka gesehen. Mit einem anderen Mann in einem roten Auto. Nur ein paar hundert Meter vom Tatort entfernt. Der Zeuge war ein gewisser Roy Kvinsvik, ein vorbestrafter ehemaliger Neonazi, aus dem jetzt ein frisch bekehrter Pfingstler der Philadelphia-Gemeinde geworden war. Kvinsvik war nicht gerade ein Traumzeuge, doch er hatte sich das Bild, das Harry ihm vorg e legt hatte, gut und lange angeschaut und schließlich versichert, es zeige die Person, die neben Sverre im Auto gesessen habe. Der Mann auf dem Bild war Tom Waaler.
Obwohl Harry seinen Kollegen schon einige Zeit verdächtigt hatte, war diese Bestätigung für ihn ein Schock. Auch deshalb, weil es in der Abteilung vermutlich weitere Maulwürfe gab. Sonst wäre es dem » Prinzen « nicht möglich gewesen, auf derart breiter Basis zu operieren. Was wiederum bedeutete, dass Harry keinem trauen konnte. Deshalb hatte er niemandem gegenüber erwähnt, was Roy Kvinsvik ihm
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